Bundesgelder für KinderbetreuungKitas sollen mindestens eine Milliarde mehr erhalten
Die Bildungskommissionen beider Räte wollen Krippen dauerhaft und stärker finanzieren. Eine Bildungsfachfrau spricht von einem «historischen Entscheid».
Seit 2003 fördert der Bund die Kinderbetreuung mit einer sogenannten Anschubfinanzierung: Wer eine Kindertagesstätte, einen Hort oder eine Tagesschule eröffnet, bekommt in den ersten Jahren einen Zustupf vom Bund. Schweizweit wurden damit in 18 Jahren rund 60’000 Betreuungsplätze geschaffen, pro Betreuungsplatz bezahlte der Bund im Schnitt rund 6500 Franken Anschubhilfe.
Doch in den letzten Monaten gab es immer wieder Medienberichte über Geldmangel und prekäre Arbeitsbedingungen in Kindertagesstätten. Im Kanton Solothurn stiessen die Arbeitskontrolleure auf Stundenlöhne für Praktikantinnen von unter 3 Franken, wie diese Zeitung berichtete. Auch die Krippenaufsicht sei überlastet, schrieb kürzlich die NZZ. Missstände blieben so unentdeckt, und für Eltern sei es unmöglich, zu merken, wenn in einer Kita etwas schieflaufe. Klar ist: Vielen Einrichtungen fehlt das Geld, um eine optimale Qualität gewährleisten zu können.
Unabhängig davon ringen Bundesparlamentarier schon länger mit einer Lösung zur familienergänzenden Kinderbetreuung. Denn die Anschubfinanzierung war damals vor rund 20 Jahren eigentlich nur für vier Jahre gedacht, wurde aber bis heute mehrmals verlängert. Jedes Mal zum Unmut der Bürgerlichen. Das sei ein unwürdiges Spiel, sagt Mathias Reynard, Walliser SP-Nationalrat und Präsident der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK). Es war deshalb sein prioritäres Anliegen, eine permanente Krippenfinanzierung einzubringen.
Die WBK-N hat im Februar eine parlamentarische Initiative eingereicht, die verlangt, dass die bisherige Anschubfinanzierung in eine stetige Unterstützung überführt wird. Die WBK des Ständerats hat dies gutgeheissen. Beide Kommissionen sind mit deutlicher Mehrheit dafür.
Initiative verlangt mehr finanzielles Engagement des Bundes
Das ist überraschend, denn die Anschubfinanzierung ist im bürgerlichen Teil des Parlaments umstritten. Zudem verlangt die Initiative indirekt, dass der Bund deutlich mehr Geld als heute in die Kinderbetreuung investieren soll, indem sie eine «massgebliche Vergünstigung der Elternbeiträge» verlangt und «eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung». Allein die Verbesserung der frühkindlichen Bildung würde pro Jahr in der Deutschschweiz eine Milliarde Franken Mehrkosten bedeuten. Eine Senkung der Elternbeiträge umso mehr. Das Ziel sei es, die Entwicklungschancen der Kinder zu erhöhen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, heisst es im Initiativtext.
Die WBK des Nationalrats erarbeitet nun einen Gesetzesvorschlag, der dann nochmals durch beide Kommissionen geht und dann von den Räten behandelt wird. Das Anliegen, mehr Geld in die Kinderbetreuung zu investieren, hat in den Kommissionen zwar eine solide Mehrheit. Dennoch dürften die Meinungen auseinandergehen, wenn es um die konkrete Ausgestaltung einer stetigen Kita-Finanzierung geht.
«Denkbar wäre, dass der Bund den Fokus auf die frühkindliche Bildung legt.»
Diese sei eine «eigentlich kantonale Aufgabe», sagt Christoph Eymann, LDP-Nationalrat aus Basel. Wenn der Bund sich permanent daran beteiligt, müsse deshalb klar sein, wofür das Geld verwendet wird. Denkbar wäre laut Eymann, dass man den Fokus auf die frühkindliche Bildung lege. Denn laut Bildungsbericht sei es das Ziel von Bund und Kantonen, dass 95 Prozent aller 25-Jährigen eine Matura oder einen Lehrabschluss haben. «Das erreichen wir heute nicht für alle Bevölkerungsgruppen. Dieses Ziel würde den Bund legitimieren, die frühe Förderung von Kindern zu unterstützen», sagt Eymann.
Kinderbetreuung als Notwendigkeit
Der Arbeitgeberverband, der auf einen Ausbau und eine Verbesserung der familienergänzenden Kinderbetreuung hinwirkt, lehnt ein dauerhaftes Bundes-Engagement aus ordnungspolitischen Gründen ab. «Der Bund kann anschieben, wie er es bei den Krippen erfolgreich getan hat», sagt Valentin Vogt, Präsident des schweizerischen Arbeitgeberverbands. Doch grundsätzlich sei die Bildung – mit Ausnahme der ETH und der Berufsbildung – Sache von Kantonen und Gemeinden, diese sollten weiterhin für die Kinderbetreuung zuständig sein.
Ansonsten habe er viele positive Signale von Parteien und Verbänden erhalten, sagt Kommissionspräsident Mathias Reynard. Zum Beispiel setzt sich der Städteverband schon länger dafür ein, dass sich alle staatlichen Ebenen stärker an den Kinderbetreuungskosten beteiligen.
«Familienergänzende Kinderbetreuung ist heute schlicht eine Notwendigkeit, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen.»
Unabhängig von der Lastenverteilung, sagt Städteverbands-Vorstandsmitglied und Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried, sei die familienergänzende Kinderbetreuung heute nicht mehr ein «Nice to have», sondern schlicht und ergreifend eine Notwendigkeit, wenn die Schweiz ihren Wohlstand längerfristig sichern wolle.
Es gebe kaum mehr Jobs für schlecht ausgebildete Menschen. Auch die Arbeit im Autogewerbe, in der Gastronomie oder im Detailhandel erfordere hohes Fachwissen und Sozialkompetenz. Die Forderung nach Bildung in der frühen Kindheit sei deshalb vergleichbar mit der einstmaligen Forderung nach unentgeltlichem Primarschulunterricht für alle.
BIP würde gesteigert
Estelle Thomet vom Verband Kinderbetreuung Schweiz (Kibesuisse) spricht von einem «historischen Entscheid» der beiden Bildungskommissionen. Erstmals signalisiere das Parlament, dass es die Wichtigkeit der frühkindlichen Bildung für die Schweiz erkennt und deshalb investieren will. Und nicht nur das: Auch die Elternbeiträge sollen gesenkt werden, damit würde der Zugang zu diesen Angeboten verbessert, Väter und Müttern könnten vermehrt erwerbstätig sein, wenn sie das wollen. Zumindest würde sich die Erwerbsarbeit für sie lohnen.
Eine Studie von BAK Economics hat im Frühling 2020 quantifiziert, wie sich eine höhere Erwerbsbeteiligung auf das BIP und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz auswirken würde: Investitionen von einer knappen Milliarde Franken in die familienergänzende Bildung und Betreuung würden das BIP demnach um 3,3 Milliarden Franken steigern.
Ein stärkeres finanzpolitisches Engagement des Bundes sei dabei gerechtfertigt, sagt Estelle Thomet: «Am Ende des Tages würden Gemeinden, Kantone und der Bund von den Investitionen durch höhere Steuereinnahmen deutlich profitieren. Deshalb ist eine Mitfinanzierung durch alle drei Ebenen sachgerecht.»
Eine Milliarde Franken – das ist ungefähr der Betrag, den es laut Kibesuisse jährlich bräuchte, um allein in der Deutschschweiz die notwendige pädagogische Qualität in Kindertagesstätten zu erreichen. Darin ist die lateinische Schweiz noch nicht inbegriffen, und auch keine Senkung der Elternbeiträge. Zum Vergleich: Die Anschubfinanzierung hat bisher in 18 Jahren insgesamt rund 400 Millionen Franken gekostet.
Diese Woche wird sich die WBK-N erneut mit dem Thema befassen. «Die Zeit drängt», sagt der Zürcher Mitte-Nationalrat und Wädenswiler Stadtpräsident Philipp Kutter. Wenn die Anschubfinanzierung im Januar 2023 ausläuft, muss das Parlament seiner Ansicht nach mit einer Anschlusslösung bereit sein.
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