Soziologe Hartmut Rosa im Interview«Mehr Autos, mehr Häuser, mehr Flüge, mehr Computer, mehr Nahrungsmittel – das ist pervers»
Der Kapitalismus sei angstgesteuert, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Er plädiert für ein neues Wir und erklärt, warum Trumps «Scheiss-auf-alles-Attitüde» so gut funktioniert.

Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat kürzlich an der ETH Zürich unter dem Titel «Ich habe keine Zeit!» über Zeitknappheit gesprochen. Im Interview legt der in Jena lehrende Professor denn auch ein Gesprächstempo an den Tag, das vermuten lässt, dass er weiss, wovon er spricht. Moderne Gesellschaften könnten sich nur dynamisch stabilisieren, sie müssten unablässig wachsen, beschleunigen und innovieren, um sich zu erhalten, sagt Rosa. Das Sprechtempo des 59-Jährigen widerspiegelt diese «dynamische Stabilisierung». Dabei kritisiert Rosa die Entfremdungsgefühle, die mit der Beschleunigung einhergehen. Und er plädiert für eine resonante Weltbeziehung, das heisst eine Beziehung zu Mitmensch und Umwelt, die Veränderung und Entwicklung zulässt.
Herr Rosa, neulich piepste die Garmin-Uhr eines Freundes auf einem Spaziergang und überbrachte die Botschaft: «Ihre Herzfrequenz ist unregelmässig.» Was sagt das über die aktuelle Befindlichkeit der Menschen?
Ich glaube, dass genau darin ein Teil unserer gesellschaftlichen Krise begründet ist.
Wie meinen Sie das?
Wir erheben immer mehr Parameter unseres Lebens. Als ich jung war, gab es eine Waage in der Apotheke. Den Blutdruck hat der Arzt gemessen. Heute sind viele Leute fixiert auf Gewicht und Blutdruck. Zudem werden zig andere Grössen gemessen wie Schrittfrequenz, Herzfrequenz, Pulsrate, Sauerstoffsättigung. Wenn jemand fragt, wie hast du geschlafen, schauen wir auf die Uhr.
«Mit der ‹Scheiss-auf-alles-Attitüde› spricht Trump vielen aus dem Herzen.»
Warum sollte das schlecht sein?
Wir machen uns von Handelnden zu Vollzugsorganen von Algorithmen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber: Ich verstehe langsam die Wut der Leute, die in den USA einen Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt haben. Er ist ein Paradebeispiel dafür, sich um nichts mehr scheren zu wollen. Seine komplette Irrationalität und seine Unvernunft sind eine Art stummer Protest gegen die Hypergängelung im Alltag. Mit der «Scheiss-auf-alles-Attitüde» spricht er vielen aus dem Herzen.
Warum traut man eher Männern wie Trump als der Demokratie zu, die Krisen zu bewältigen?
Die Gesellschaften in Europa und den USA haben keine Zukunftsvision mehr. Es gibt nur die Wahl zwischen Abgründen: Für die Grünen gehen wir auf die Klimakatastrophe zu, für die rechten Parteien auf die Überflutung durch fremde Völker. Liberale wiederum sehen eine wirtschaftliche Katastrophe im Anzug. Die Leute wählen starke Männer, weil die Demokratien gezeigt haben, dass sie diese Probleme nicht meistern können. Sie haben uns keinen Schritt entfernt vom Klimadesaster. Und sie haben keine Antwort auf den Ukrainekrieg.
Und deshalb folgen die Wählenden der alten Mär vom Wachstum und vom Nationalismus?
Es ist nicht einmal mehr die alte Mär. Die alte Mär besagte, dass der Fortschritt die Menschheitsprobleme lösen werde. Aber heute herrscht von rechts bis links die Überzeugung, dass es so nicht mehr weitergehen kann. In Thüringen ging die Hälfte aller Stimmen an populistische Parteien wie die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Beide Parteien wurden gewählt, weil die Leute nicht mehr daran glauben, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. Dabei geht es nicht nur um Wohlstand, sondern auch um Frieden, Gesundheit und Bildung.
Sie sehen die Beschleunigung unserer Lebensrhythmen als Ursache für Entfremdungsgefühle. Wie wird KI dies beeinflussen?
Schreiben meine Studierenden einen Essay, suchen viele die Argumente mit KI und fuhrwerken dann noch ein bisschen darin herum. Der Effekt dabei ist derselbe wie beim Beispiel mit der Uhr: Die Studierenden werden von Handelnden zu Vollziehenden. Das hat Folgen. Bis Mitte der Neunzigerjahre mussten die Fragen für den IQ-Test erschwert werden, weil die Menschen intelligenter wurden. Seit dem Aufkommen des Internets ist das nicht mehr nötig – oder höchstens als Anpassung nach unten.

Das klingt ziemlich kulturpessimistisch, obwohl Sie von sich behaupten, kein Kulturpessimist zu sein.
Ich möchte mit einer Aussage der Philosophin Hannah Arendt entgegnen: Menschen haben die Fähigkeit, aus Mustern auszubrechen und neu anzufangen. Die Epochensprünge in der Geschichte der Zivilisation waren aber nie geplant. Sie sind aus einer Verkettung von Entwicklungen hervorgegangen. Manchmal ist es ein Krieg, der die Menschen vorwärtsbringt. Das Paradoxe an der aktuellen Entwicklung ist ja das Missverhältnis zwischen dem Bestreben, unser Leben durch Algorithmen zu steuern, und der Wiederkehr von Seuchen und Krieg, diesen uralten Geisseln der Menschheit.
Sie schreiben in einem Essay, Politik sei nicht steuerbar. Aber wer soll denn agieren, wenn nicht die Politik?
Ich habe die Hoffnung auf die Demokratie noch nicht aufgegeben. Im Jahr 1989 hat niemand vorhergesehen, dass der Kalte Krieg über Nacht Geschichte ist. So etwas kann jederzeit wieder passieren. Im Moment ist das meine Hoffnung.
Im politischen Alltag kann man keine Wende zum Guten bewirken?
Zurzeit kämpft jede Partei gegen irgendwas und für irgendwas: Frauenrechte, Kinderrechte, Ausländerrechte. Wer für Gemeinwohl kämpft, gerät in den Verdacht des Nationalismus. Wir brauchen ein neues Wir. Stellen Sie sich einen Wohnblock vor, dessen Dach leckt. Alle Eigentümer sind da gefordert. Dasselbe gilt in Anbetracht des Klimawandels auch für die Menschheit.
Ein Büchlein von Ihnen trägt den Titel «Demokratie braucht Religion». Brauchen wir ein religiöses Revival?
Als Soziologe interessiert mich nicht Gott, sondern die Haltung, die bei religiösen Praktiken vermittelt wird. Es ist ein Unterschied, ob ich eine Kirche betrete oder einen Supermarkt. In der Kirche gibt es eine Haltung des Lauschens, des Sich-Öffnens. Religion ist charakterisiert durch Transzendenz und Transformation. Transzendenz heisst, es gibt etwas, das wichtig ist und bewahrt werden muss. Dafür muss man nicht religiös sein. Wer zum Beispiel für Eisbären kämpft, hat ähnliche Gefühle. Transformation bedeutet, dass ich bereit bin, mich in Kontakt mit der Aussenwelt zu verwandeln. Auch Demokratie funktioniert so: Es geht nicht darum, das zu tun, was man will. Es geht darum zu verstehen, was das Wertvolle ist an dem, was die anderen zu sagen haben.
«Markt und Konkurrenz sind hilfreich. Bei der Lenkung von Investitionen braucht es aber mehr Demokratie.»
Also ist die spirituelle Obdachlosigkeit das Problem?
Die Wachstumslogik alleine liegt jedenfalls nicht in der Natur der Menschen. In den Gesellschaften vor dem Kapitalismus diente Innovation dazu, den Status quo ans Bevölkerungswachstum anzupassen. Heute hingegen muss die Wirtschaft wachsen, wenn sie den Wohlstand erhalten will. Mehr Autos, mehr Häuser, mehr Flüge, mehr Computer, mehr Nahrungsmittel. Das ist nicht in der Natur des Menschen, das ist pervers.
Aber es ist in der Natur des Kapitalismus. Und wir haben kein anderes System.
Der Kapitalismus ist nicht bedürfnisgesteuert, er ist angstgesteuert. Es heisst immer, die Wirtschaft produziere nur, was sich die Kunden wünschten. Das ist falsch. Wir nutzen nur ein Prozent der Funktionen eines Handys. Es stimmt nicht, dass die Nutzer ständig neue Handys brauchen oder neue Updates.
Was ist denn die Alternative?
Ich habe keine. Aber angesichts der Vielfalt der bisherigen menschlichen Lebensformen ist es idiotisch, zu glauben, es könne nur Wachstum oder Stalinismus geben.
Ohne Wachstum werden wir aber verzichten müssen.
Die Verzichtslogik wird sich nicht durchsetzen. Wir brauchen vielmehr eine andere Form des Gelingens. Unsere Musikerfahrung wurde nicht besser durch Spotify. Meine CDs höre ich demgegenüber regelmässig.
Dann hatte Karl Marx in seiner Analyse wohl recht, wonach der Kapitalismus zu Überproduktionskrisen führt?
Zumindest der Marx, der sagte, die Kapitalbewegung selber werde zum Subjekt der Geschichte. Ich glaube, diese Logik muss man brechen. Da kann man bei den Finanzmärkten beginnen. Sie sind ein zentraler Treiber.
Müssten die Finanzmärkte verboten werden?
Markt und Konkurrenz sind hilfreich. Bei der Lenkung von Investitionen braucht es aber mehr Demokratie. Die Chinesen machen Kapital nutzbar, aber machen es nicht zum Endzweck. Der Ansatz ist interessant.
Sie schlagen allen Ernstes das chinesische System vor?
Nein. In China werden Investitionsentscheide von der Partei gefällt. Sie sollten aber nach demokratischen Gesichtspunkten gefällt werden. Die heutige Gesellschaft ist die erste, die sich nicht mehr über die Produktion, sondern über den Konsum definiert. Für eine Gesellschaft ist die Produktion aber wichtiger als der Konsum. Der Mensch definiert sich über die Arbeit. Wir dürfen die Produktionsentscheidungen nicht entfesselten Finanzmärkten und Supermilliardären überlassen.
Was schlagen Sie konkret vor?
Es gibt Instrumente wie etwa die Steuer auf Finanztransaktionen oder das Grundeinkommen. Vor vierzig Jahren haben die Chefs das Dreissigfache des Arbeiters verdient, jetzt ist es das Dreihundertfache. Es würde nicht den Kapitalismus killen, wenn es da mehr Ausgleich gäbe. Würden mehr solcher Vorschläge umgesetzt, würden weniger Menschen Populisten wählen.
Hartmut Rosa, «Bedrohliche Zukunft, dunkle Vergangenheit? – Zeitkrise Europas», Casino Bern, Montag, 27. Januar 2025, 18.30–20 Uhr. Vorverkauf: www.zeitgedanken.unibe.ch
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