Fantum und EthikKann man die Kunst eines Monsters lieben?
Die US-Essayistin Claire Dederer hat ein geniales, erzählendes, nicht vergeistigtes Buch über Fans im emotionalen Dilemma geschrieben.
Kann man Liebe auf Knopfdruck abstellen? Was soll man tun mit den ganzen «problematischen» Charakteren wie Rammstein-Sänger Till Lindemann oder Schauspieler Kevin Spacey, die man einmal heiss und innig verehrt hat? In der leidigen Debatte um die Möglichkeit der Trennung zwischen Werk und Künstler geht es immer auch um ganz persönliche Gefühle.
Die amerikanische Essayistin Claire Dederer hat sich selbst die Frage «Kann ich die Kunst lieben, aber das Monster dahinter hassen?» gestellt und ein geniales, erzählendes, nicht vergeistigtes Buch darüber geschrieben, das im Herbst auf Deutsch erscheinen wird. Es ist eine Frage, die man gern skalpellkühl und mit einer wegwerfenden Handbewegung beantwortet.
Die eine Seite behauptet steif und fest, so abstraktionsbegabt zu sein, um verantwortungsvoll Richard Wagners Musik zu hören. Und die andere Seite würde sich am liebsten an die Hugendubel-Pforte ketten als Protest gegen den Verkauf von Woody Allens Autobiografie oder Roald Dahls Kinderbüchern und warnt vor jedem Spotify-Klick, der Kanye West ein paar Cents aufs Konto spült. Egal, wie und wer was dazu sagt, er oder sie weiss auf jeden Fall, was richtig ist, oder findet oder hat sich das sehr lange überlegt.
«Ich fand die Musik ja immer schrecklich»
Aber jeder «Rock» im lässig geschwenkten Whiskey schmilzt vor Verzweiflung, liest man sich nur die nicht mal halb vollständige Liste an problematischen Künstlern durch, die Claire Dederer gemacht hat: «Roman Polanski, Woody Allen, Bill Cosby, William Borroughs, Richard Wagner, Sid Vicious, V.S. Naipaul, John Galliano, Norman Mailer, Ezra Pound, Caravaggio ...» Später schreibt Dederer über Virginia Woolfs Antisemitismus, über Picassos Misogynie, über den seine Ehefrau prügelnden Miles Davis.
Erwähnt man nur den biografischen Umstand in der Gegenwart eines Bewunderers, entlädt sich die Spannung dieses Dilemmas blitzartig im Dreisatz: Darf man noch – man darf ja wohl noch – dann darf man ja gar nichts mehr. Dederers Buch handelt aber weniger von der unsinnigen Frage, ob man jetzt noch Musik von Michael Jackson hören darf oder «House of Cards» trotz Kevin Spacey noch schauen kann. Sie schreibt: «Das passiert uns, wenn wir uns sagen, dass wir gerade ethische Gedanken haben, aber was wir eigentlich haben, sind moralische Gefühle. Wir wickeln Worte um sie und nennen das Meinung.» Um also mal ehrlich über den Konflikt unserer Zeit zu reden, muss man in die Tiefen eines gebrochenen, aber weiterliebenden Herzens tauchen.
Plötzlich steht unter Youtube-Videos von Rammstein nämlich so was: «Einfach nur schockierend. Der Anblick von T.L. – Geschmacksache, aber heute kann man doch nur noch sagen: ekelhaft!» «Klingt wie irgendein industrieller Lärm, mit einem grunzenden Eber an der Spitze.» Ex-Fan Starletnova filmt sich auf Youtube beim Weinen und fragt in Verzweiflung über ihre verschwendete Liebe zu Rammstein: «Wie kann man so scheisse sein?» Plötzlich sind diejenigen zur Stelle, die sagen: Ich fand die Musik immer schrecklich, Ballermann für Rocker, stumpf, doof. Dabei hat sich die Kunst der Band in den vergangenen Wochen doch nicht verändert?
Was Dederer in ihrem Buch beschreibt, ist ein Scheitern des Denkens.
Vielleicht erst mal so rum: Kunst verändert uns. Sie kann uns durch die schlimmsten Krisen hieven, uns sanft am Kinn über Wasser halten, und sie erzählt uns mehr über Liebe, Leid und Tod als jede Aufklärungskampagne oder Priesterpredigt dieser Welt. Und all das ist eng verknüpft mit dem eigenen Lieben, Leiden, Sterben. Claire Dederer schreibt: «Ästhetische Erfahrung ist mit Nostalgie und Erinnerung verbunden, und das ist eine subjektive Erfahrung.»
Dederer verbrachte als junge Filmkritikerin Tage und Nächte damit, alle Filme von Roman Polanski zu sehen, sie verehrte ihn. Als sie schliesslich erfuhr, dass Polanski verurteilt wurde wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen, fühlte sich das «monumental, wie der Grand Canyon, riesig und leer und fast unverstehbar» an. Trotzdem: Sie schaute die Filme weiter, «Repulsion», «Rosemary’s Baby», auch die unbekannteren wie «The Ghost Writer». Sie waren genial wie eh und je, und doch hatte sich etwas verändert, doch schlich sich diese Gleichzeitigkeit aus Genie und Verbrecher in ihr Wohnzimmer: «Polanski hat ‹Chinatown› gemacht, oft als bester Film aller Zeiten bezeichnet. Polanski hat eine 13-Jährige unter Drogen gesetzt und sie anal vergewaltigt.»
Was Dederer in ihrem Buch beschreibt, ist ein Scheitern des Denkens. Es hilft ihr nicht weiter. Sie sehnt sich nach einem Experten, nach einem Standardwerk, nach einem Rechner, der die Tiefe des Verbrechens gegen die Grossartigkeit des Genies kalkuliert, um am Ende grünes oder rotes Licht zu erhalten. Sie beschliesst also, eine Autobiografie des Publikums zu schreiben, und macht den sehr wichtigen Schritt: Sie betont, dass es ihre Zuschauer-Autobiografie, ihr Kunsterleben, ihr Dilemma ist. Und Achtung: Damit betreten wir die unbefriedigende Sphäre, in der zwei Menschen mit unterschiedlicher Meinung gleichzeitig recht haben können.
Fantum ist hochpersönlich
Man glaubt ja manchmal, ein Kanonkenner oder Cineast und enorm objektiv zu sein und irgendeine ungemein intellektuelle Verbindung zu einem Künstler zu spüren, während Woody Allen einfach nur die ureigene, omnipräsente Angst vor dem Tod wie kein anderer verstanden hat. Dann ruft man plötzlich, dass Woody Allen die 35 Jahre jüngere Adoptivtochter seiner Ex-Frau Mia Farrow doch erst nach der Trennung von Farrow geheiratet hat und er sie eben wirklich liebt, und sagt dem Besserwisser gegenüber, dass ein medizinisches Gutachten Allen wegen Vorwürfen des Missbrauchs der auch sehr jungen Dylan Farrow freigesprochen hat.
Dann denkt man an den Film «Manhattan», in dem Woody Allen (an den Namen der Figur erinnert man sich nämlich nicht, irgendwie fuchtelt in allen Filmen Woody Allen selbst herum) eine 17-Jährige datet, und sagt, dass das eine Beziehung auf Augenhöhe gewesen sei. Und noch während des Redens verdreht sich etwas in der Magengegend, und man hört sein Rückgrat laut knacksen. Man nimmt das in Kauf. Weil einem das Werk persönlich so viel bedeutet.
Nirgends ist die Beziehung so persönlich wie in der Popmusik. Fans kennen den Namen des Bruders des Bassisten. Fans verfolgen jedes laue Lüftchen, das irgendein Klatschblatt in die Welt bläst. Wie bitte, Taylor Swift datet den Ex-Junkie Matty Healy von The 1975? Haben Sie auch das Foto gesehen, wie sie Händchen haltend das Casa Cipriani in New York betreten? Pah, sie verdient Besseres! Nein, niemand hat hier die Absicht, irgendjemand von irgendetwas zu trennen.
«Liebe beruht nicht auf Urteilen, sondern auf der Entscheidung, das Urteilen beiseitezulassen», schreibt Claire Dederer.
Natürlich gibt es kein Gesetz, das 60-jährigen Männern verbietet, junge Frauen wie namenloses Frischfleisch zu behandeln. Aber dass sich eine jüngere Generation jetzt wehrt, wie etwa die Youtuberin Kayla Shyx, die lieber kein blosses «Sexobjekt» im Rammstein-Backstage ist, hat selbst die generationskritische Schriftstellerin Zadie Smith in einem Essay über den Film «Tàr», der ein ganz ähnliches Problem behandelt, gelobt: «Als ethischer Imperativ ist das eine der sehr guten Ideen der gegenwärtigen Generation.»
Das bedeutet nicht, dass jeder moralisch nicht einwandfreie Künstler abgesägt wird, sondern dass bestimmte Zweifel und Gefühle besseres Gehör in der Gesellschaft gefunden haben. Aber ja, die Dilemmata werden damit nicht weniger.
Hört deswegen die Liebe auf? Vielleicht. Muss sie das? Nein. «Liebe beruht nicht auf Urteilen, sondern auf der Entscheidung, das Urteilen beiseitezulassen», schreibt Claire Dederer gegen Ende ihres Buchs. Fans sind keine Kant’schen Vernunftwesen, die nach dem kategorischen Imperativ leben. Sie sind Heuchler, notorische Rückgratbrecher, selige Selbstbetrüger. Und manchmal liebt man Schwarzweissbilder von «Manhattan», Gershwin und Diane Keaton, liebt die ganzen strauchelnden Grossstädter, die sich in den Mann der eigenen Schwester verlieben, während Bachs Cembalokonzert Nummer 5 in f-Moll läuft – aber verachtet eine deutsche Rockband. Man ist und bleibt ein liebender Betrüger.
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