Gastbeitrag zur JustizKanada kann uns ein Vorbild sein
Ein breit akzeptierter und unabhängiger oberster Gerichtshof mit transparenter Kommunikation: Vom Justizsystem in Kanada kann man viel lernen.

Nationale wie auch internationale Gerichte ziehen in letzter Zeit vermehrt die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft auf sich. Leider beschränkt sich die Aufmerksamkeit aber oftmals auf tatsächliche oder vermeintliche Missstände, wie etwa die zunehmend politisch gefärbte Rechtsprechung des US-amerikanischen Supreme Court oder das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Gerade das auf den Supreme Court der USA gerichtete Scheinwerferlicht verdeckt den Blick darauf, dass sich im nördlichen Nachbarland Kanada ein ganz anders geprägtes – gut funktionierendes – Justizsystem entwickelt hat, an dessen Spitze der Supreme Court of Canada steht. Dieser ist bei uns wenig bekannt. Dies erstaunt, hat er sich doch zu einer der weltweit anerkanntesten Institutionen der Rechtsprechung entwickelt.
Gesetzesbestimmungen, die mit der Verfassung unvereinbar sind, werden vom Supreme Court in letzter Instanz als ungültig erklärt. Die Aussicht auf diese Macht der Gerichte hatte vor Einführung der Grundrechtscharta 1982 zu einem gewissen Unbehagen in der Politik geführt. Kanada war nicht bereit für eine radikale Abkehr vom britischen System des strengen Vorrangs von Erlassen des Parlaments.
Jedes Urteil in Englisch und Französisch
Entsprechend wurde gleichzeitig mit der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Notklausel eingeführt. Diese erlaubt es den Parlamenten des Bundes wie auch der Provinzen, während einer Zeitdauer von fünf Jahren von gewissen Teilen der Charta abzuweichen. Auf Bundesebene wurde die Klausel noch nie angerufen.
In einem föderalen System, in dem sowohl Französisch als auch Englisch als Amtssprachen anerkannt sind, ist besondere Sensibilität gefragt. In regionaler Hinsicht ist vorgesehen, dass die Richter aus verschiedenen Regionen stammen müssen. Jedes Urteil ergeht gleichzeitig in Englisch und Französisch.
2000 wurde die erste Chief Justice von Kanada eingesetzt. Derzeit stellen die fünf Richterinnen erstmals in der Geschichte die weibliche Mehrheit am kanadischen Supreme Court. 2021 wurde erstmals ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit Höchstrichter, ein Jahr später die erste Indigene.
Institution im Dienste der Bevölkerung
Der Wahlprozess und die Justiz insgesamt sind in Kanada weniger polarisiert und politisiert als im südlichen Nachbarland. Bisher gelang es dem kanadischen Supreme Court, als unabhängige Gewalt ohne politischen Anstrich wahrgenommen zu werden.
Das Selbstverständnis als Institution im Dienste der Bevölkerung geht einher mit einer Öffnung gegenüber den Rechtssuchenden wie auch der Öffentlichkeit. Die aufgeschlossene und proaktive Kommunikation trägt die Handschrift des derzeitigen Chief Justice Wagner, der etwa veranlasst hat, dass von Zeit zu Zeit Gerichtsverhandlungen in anderen Landesteilen durchgeführt werden. Die nahbare Kommunikation äussert sich auch in Medienkontakten oder in Kurzzusammenfassungen von Urteilen, die in verständlicher Sprache verfasst sind. Damit signalisiert der Supreme Court, dass seine Akzeptanz stets neu erarbeitet und gefestigt werden muss. Zudem zeugt die zunehmende Offenheit vom Bewusstsein, dass das Gericht ungeachtet seiner bedeutenden Rolle im Staat selber einem Wandel ausgesetzt ist und seine Stabilität eine Bereitschaft zu stetigem Fortschritt voraussetzt.
Matthias Leemann ist als wissenschaftlicher Berater und Gerichtsschreiber am Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne tätig.
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