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Meinung

Leitartikel zu den USA
Einen wie Joe Biden wird es wohl nicht noch einmal geben

TOPSHOT - US President Joe Biden speaks during an address to the nation about his decision to not seek reelection, in the Oval Office at the White House in Washington, DC, on July 24, 2024. US President Joe Biden will give an Oval Office speech July 24, 2024 to explain his historic decision to drop out of the 2024 election and pass the torch to Kamala Harris, with the White House denying any cover up over his health. In his first address to the nation since quitting the race, the 81-year-old is expected to burnish his legacy and deny he will spend six months as a lame duck president. (Photo by Evan Vucci / POOL / AFP)
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Als Joe Biden im April 2019 bekannt gab, dass er für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten kandidieren werde, veröffentlichte er ein Video. Er sprach darin über die Bedrohung, die Donald Trump für Amerikas Demokratie darstelle, über den Kampf um Amerikas Seele. Und er illustrierte seine Ankündigung mit Bildern aus der amerikanischen Geschichte, die zeigten, dass schon frühere Generationen diesen Kampf geführt hatten: Frauen waren da zu sehen, die ihr Wahlrecht einforderten; Menschen, die mit «We shall overcome»-Plakaten für ein gerechteres Amerika demonstrierten; Martin Luther King und Lady Liberty, die Freiheitsstatue.

Eine Bildsequenz, die Biden in sein Bewerbungsvideo schneiden liess, war eine alte Schwarzweissaufnahme. Sie zeigte ein unruhiges Meer, eine graue Küste, stählerne Landungsboote mit heruntergeklappten Rampen und behelmte GIs, die ans Ufer waten. Die Bilder waren am 6. Juni 1944 aufgenommen worden, am D-Day, dem Tag, an dem die Alliierten in der Normandie landeten, um Europa vor den Deutschen zu retten.

Diese Bildauswahl war weit mehr als nur ein wahlloser Griff in den historischen Fundus der amerikanischen Ikonografie. In einem Kandidatenvideo, das von zig Millionen Wählerinnen und Wählern gesehen und instinktiv verstanden werden soll, ist jede einzelne Sekunde wichtig. Zwei Sekunden dafür zu verwenden, die Amerikaner daran zu erinnern, dass sie einst für die Freiheit der Menschen auf der anderen Seite des Atlantiks geblutet haben, war daher eine politische Botschaft: Joe Biden ist ein Mensch, der um die Bedeutung dieses Erbes weiss, das Amerika und Europa verbindet, und der dieses Erbe pflegt.

Obama, der erste «pazifische» Präsident

Und so steckt im bevorstehenden Rückzug von Joe Biden aus der Politik, im Verzicht auf eine weitere Präsidentschaftskandidatur, den er diese Woche erklärt hat, ebenfalls eine Botschaft – womöglich gar eine Warnung: Hier geht ein Mann, der vermutlich der letzte überzeugte Transatlantiker war, den es in Washington noch gab, zumindest der letzte, der es ins Präsidentenamt geschafft hat. Die Ära, in der die Europäer sich darauf verlassen konnten, dass in Washington jemand regiert, der bei allem gelegentlichen Streit den unschätzbaren Wert des transatlantischen Bündnisses kennt und es nicht in Gefahr bringt, ist vorbei.

Bis zu einem gewissen Grad war dieser Zeitenbruch unvermeidlich. Biden wurde im November 1942 geboren, eineinhalb Jahre bevor die amerikanischen Soldaten die normannischen Strände stürmten. Er ist nicht nur ein Kind des Kalten Krieges, er hat diese historische Periode, in der Amerika und Westeuropa eine Überlebensgemeinschaft bildeten, als US-Senator auch über Jahrzehnte mitgestaltet. Dass irgendwann Politiker aus einer jüngeren Generation nachrücken würden, die nicht Bidens fast schon sentimentale Verbundenheit mit Europa teilen, konnte man bereits sehen, als Barack Obama ins Weisse Haus einzog, Amerikas erster «pazifischer» Präsident.

Aber die Zugehörigkeit zu einer Generation ist in diesem Zusammenhang offenbar nicht entscheidend. Donald Trump, Jahrgang 1946, ist kaum jünger als Joe Biden, und seine Sicht auf Europa und das transatlantische Bündnis ist bekanntermassen in etwa so hell und freundlich wie das Innere eines Sacks Grillkohle. Ihn interessiert Europa nur insoweit, als er in Schottland einen echten Golfplatz besitzt und zudem die Nato für eine Art Golfclub hält, der ihm auch gehört, bei dem die Mitglieder aber ihre Beiträge nicht bezahlen. Die Opfer, die seine Landsleute einst dafür gebracht haben, dass die Europäer in Freiheit und Frieden leben können, sind Trump egal. Die amerikanischen Soldatenfriedhöfe in Frankreich waren für ihn während seiner ersten Präsidentschaft nur eine Kulisse, um sich selbst zu inszenieren – nicht eine Mahnung, ein von Vorgänger zu Vorgänger weitergereichtes politisches Vermächtnis anzunehmen.

Staatsoberhäupter haben auch Gefühle

Nun kann man der Ansicht sein, dass für Staaten und Regierungen harte Interessen ohnehin bedeutender seien als nostalgische Gefühle. Was ändert sich schon gross, wenn im Oval Office jemand sitzt, der oder die keine innere Verbindung mit Europa hat? Eigentlich nichts, denn das nationale Interesse Amerikas an Stabilität und Sicherheit auf seinem Partnerkontinent verschwindet nicht. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die momentan viele europäische Aussenpolitiker hegen: Egal, wer im Januar 2025 als Präsident oder Präsidentin vereidigt wird, er oder sie wird schon einsehen, wie sehr Amerika selbst von der transatlantischen Allianz profitiert, und das Bündnis deswegen nicht substanziell beschädigen.

Vielleicht kommt es so. Vielleicht auch nicht. Aber eigentlich will man nicht erleben, was dieses «Vielleicht auch nicht» in der Praxis bedeutet. Nur ein Beispiel: Die Beistandsgarantie der Allianz für ihre Mitglieder, festgelegt in Artikel 5 des Nato-Vertrags, und damit das gesamte Konzept der Abschreckung leben davon, dass ein möglicher Angreifer davon überzeugt ist, der US-Präsident werde seine jungen Männer und Frauen – im Notfall sogar Atomraketen – über den Ozean schicken, um Europa zu verteidigen. Und wem glaubt ein möglicher Angreifer wohl eher, dass er das tut? Joe Biden, der schwört, Artikel 5 sei eine «heilige Verpflichtung» für Amerika? Oder Donald Trump, der rotzig schimpft, Wladimir Putin könne mit den Nato-Staaten, die zu wenig Geld für ihre Verteidigung ausgeben, «machen, was zur Hölle er will»?

Darin besteht für Europa der Unterschied, ob im Weissen Haus ein Transatlantiker sitzt oder nicht. «Ich werde die Stärke der Nato erhalten, ich werde sie mächtiger und geeinter machen, als sie je war», hat Biden in seiner Rede am Mittwoch gesagt, in der er den Amerikanern erklärte, dass er seine Präsidentschaftskandidatur beendet. Aber was wie ein altes, vertrautes Versprechen aus Amerika klang, das noch lange Jahre Gültigkeit haben wird, war in Wahrheit lediglich ein Satz von einem Mann, der nur noch sechs Monate regiert.