Skifahrerin Joana HählenSie will bald wieder Rennen fahren – mit zwei gerissenen Kreuzbändern
Die Berner Speedfahrerin verzichtet trotz gravierender Knieverletzung erneut auf eine Operation. Sie spricht über mentale Herausforderungen – und eine irritierende Fehldiagnose.
Joana Hählen, vor knapp zwei Wochen verletzten Sie sich in Cortina, es hiess, Ihr Kreuzband sei dabei kaputtgegangen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, richtig?
In Italien gab es im Spital ein erstes MRI, die Diagnose lautete: Kreuzbandriss. Für mich war es ein Schock. Aber weil ich nicht mehr laufen konnte, hatte ich mit einer schlimmen Verletzung gerechnet. In der Schweiz machten wir dann nochmals ein MRI und verglichen die Bilder mit jenen vom Dezember 2021, als ich mich in Val-d’Isère letztmals am rechten Knie verletzt hatte. Das Ergebnis war verblüffend.
Inwiefern?
Das Kreuzband ist damals kaputtgegangen – nicht vor zwei Wochen in Cortina. Ich war schon sehr überrascht von diesem neuen Befund. Am Montag nach den Rennen in Cortina ass ich den ganzen Vormittag nichts, ich dachte ja, ich würde noch operiert. Doch nach dem Gespräch mit dem Arzt schnappte ich mir die Krücken – und humpelte wieder heim. (lacht)
Wie ist die Fehldiagnose vor gut zwei Jahren zu erklären?
Das ist ein schwieriges Thema. Es handelte sich um ein bereits geflicktes Kreuzband, bei solchen sind gewisse Details offenbar schwieriger zu erkennen. Es hiess damals, es handle sich nur um einen «Anriss». Natürlich habe ich ziemlich gestaunt und war etwas irritiert. Aber vielleicht war es für mich sogar besser so.
Sie fuhren über zwei Jahre mit einem kaputten rechten Kreuzband – ohne es zu wissen. Wie geht so etwas?
Ich spürte schon, dass im Knie nicht alle Funktionen vorhanden sind. Und ich bin so etwas wie ein Sonderfall: Ich hatte schon vier Kreuzbandrisse, je zwei pro Knie, je einmal gab es eine Operation. Aber es waren immer isolierte Verletzungen, der Meniskus etwa blieb immer heil. So hatte ich nie ein instabiles Gefühl. Ich hatte also immer Glück im Unglück. Und meine starke Muskulatur vereinfacht vieles.
Einst verzichtete Carlo Janka nach einem Kreuzbandriss auf eine Operation. Sonst aber gibt es kaum Skifahrerinnen und Skifahrer, die von einem Eingriff absehen. Was ist bei Ihnen anders?
Wenn man so will, habe ich die perfekten Voraussetzungen für eine konservative Behandlung. Ich bin klein, aber sehr kräftig, baue sehr schnell Muskulatur auf. Meine Waden-, Schienbein- und Oberschenkelmuskulatur ist sehr ausgeprägt, damit kann ich vieles auffangen. Diese Körperstellen sind auch so etwas wie meine mentale Versicherung, deshalb getraue ich mich, auch ohne intaktes Kreuzband eine Abfahrt zu bestreiten. Und ja, die Erfahrung vom linken Knie hilft mir jetzt natürlich.
2018 riss das Kreuzband im linken Knie, Sie waren in den letzten Saisons also mit zwei beschädigten Knien unterwegs …
… ich bin mutig, Neues zu versuchen. 2018 war es zunächst ein Test. Wir fragten uns: Kann es funktionieren? Es brauchte extrem viel Arbeit, viel Physiotherapie, viele Übungen fürs Knie – so ist das heute noch. Ab und zu gab es Probleme, aber sie sind immer weniger geworden. Auf eine Operation zu verzichten, war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Auf den Ski habe ich nie das Gefühl gehabt, wegen des nicht geflickten Kreuzbands in Schwierigkeiten zu geraten.
Ist es in mentaler Hinsicht nicht belastend, Rennen zu fahren, obwohl man weiss, dass etwas nicht stimmt im Körper?
So etwas braucht viel Zeit. Im Sommer 2018 fühlten sich die ersten Fahrten komisch an, weil ich dachte: Hey, dein Knie ist eigentlich nicht gesund. Im Trainingslager in Chile hatte ich Angst vor den Landungen nach den Sprüngen. Also fuhr ich erst nur mit 100 Metern Anlauf über die Sprünge, dann mit 200 Metern, und und und. Es braucht immer wieder viel mentale Arbeit.
Es ist also doch eine Vertrauensfrage?
Sicher. Wenn alles so kommt, wie prognostiziert, wird sich das Knie bald wieder so anfühlen wie vorher. Ich werde mir eine Schiene anfertigen lassen, die Stabilität verleiht – auf der linken Seite hat sich das mehr als bewährt. Ich versuchte in den letzten Jahren einige Male, darauf zu verzichten, aber es ging nicht. Wichtig ist es, den Kopf freizukriegen.
Das dürfte nicht so einfach sein nach den extrem vielen Stürzen in den letzten Wochen.
Es ist eine herausfordernde Situation. Normalerweise schaue ich mir Stürze nicht an, das tut mir nicht gut. Jetzt ist es ein wenig anders, weil ich verletzt bin. Aber ich werde wieder in den Rennmodus kommen müssen, dann hat es keinen Platz mehr für negative Gedanken und Eindrücke. Dann werde ich auch nicht mehr andauernd über mein Knie reden wollen, nur noch mit den Physiotherapeuten, aber etwa nicht mehr mit den Trainern.
Heisst das, Sie wollen tatsächlich bald wieder Rennen fahren?
Wenn alles optimal läuft, möchte ich im März in Kvitfjell und Saalbach am Start stehen. Ich mache rasch Fortschritte, die Schwellung klingt ab, Kniebeugen mit 50 Kilo Belastung sind schon wieder möglich. Aber ich habe in Cortina auch eine Knochenprellung erlitten, der Knorpel ist ebenfalls beschädigt, es wird sich zeigen, wie gravierend das ist. Ich werde nichts erzwingen, aber ich bin mit gerissenen Kreuzbändern schon fünfmal auf dem Podest gestanden. Das zu wissen, tut gut.
Befürchten Sie Folgeschäden?
Es heisst, ohne Operationen erhöhe sich das Risiko von Arthrosebildung. Aber: Mit einem Eingriff ist die Gefahr ebenfalls vorhanden. Wenn meine Karriere dereinst vorbei sein wird, werde ich sicher weitertrainieren müssen, damit die Knie gut gestützt werden. Ich kann Kitesurfen, Tennisspielen, das klappt alles. Ab und zu gibt es eine Überreaktion der Muskel, manchmal schmerzen gewisse Bewegungen – doch damit kann ich problemlos umgehen.
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