Umstrittene App aus ChinaJetzt will Tiktok in der Schweiz durchstarten
In vielen Ländern wächst der Widerstand gegen Tiktok. In den USA fordern Abgeordnete ein Verbot, in der Schweiz hingegen startet die App eine Offensive.
«Man checkt Tiktok nicht, man schaut es», sagt Mirco Hecker. Tiktok sei keine Social-Media-App im konventionellen Sinn, sondern ein «Entertainment-Anbieter» – ähnlich wie es TV-Stationen oder Streamingplattformen seien. Hinter ihm knallen die Folien mit bunten Videos.
Seit März ist der 43-jährige Deutsche Schweiz-Chefverkäufer der chinesischen App Tiktok – oder «Brand Partnerships Lead Switzerland», wie sein Jobtitel heisst. An einem Vortrag in Zürich sprach er kürzlich darüber, wie Marken auf Tiktok Werbung schalten können. Im Publikum: Marketingleute von Schweizer Firmen wie Migros, Nestlé, Post, Victorinox, Emmi, Läderach, Swiss Life oder SBB.
«Die Hälfte unseres Schweiz-Teams spricht Schweizerdeutsch.»
Lange war die App aus China für Schweizer weit weg. Das ändert sich nun. Hecker hat sein Büro zwar in Frankfurt, doch er will regelmässig in die Schweiz kommen für Kundenbesuche. Für das Referat vor 300 Marketingleuten reiste er mit drei weiteren Tiktok-Leuten aus Deutschland an. Sie wollen Kontakte zu Schweizer Firmen knüpfen. Hecker stellt auf der Bühne seine Mitarbeiter vor und sagt: «Die Hälfte unseres Schweiz-Teams spricht Schweizerdeutsch.»
EU verbietet Tiktok auf Diensthandys
In der Schweiz startet Tiktok also eine grosse Offensive – im Rest der Welt wird die Luft für den Social-Media-Anbieter allerdings gerade ziemlich dünn. In Amerika musste vor einigen Tagen Shou Zi Chew, der globale Tiktok-CEO, vor einem Kongressausschuss kritische Fragen beantworten. Hauptstreitpunkt: der Datenschutz. Fünf Stunden dauerte die Anhörung. Die USA sehen in Tiktok ein mögliches Spionagevehikel, über das die chinesische Regierung Nutzerdaten sammelt.
In Europa droht Ähnliches. Die EU-Kommission hat Tiktok auf den Diensthandys der Mitarbeitenden verboten. In Grossbritannien und in Frankreich dürfen Staatsangestellte Tiktok wegen Sicherheitsbedenken nicht mehr nutzen. Befürchtet wird etwa, dass der chinesische Staat Zugriff auf Tiktok-Daten haben könnte. In der Schweiz wartet der Bund vorerst zu. Die Bundesverwaltung ist daran, mit den zuständigen EU-Behörden zu klären, was zum Verbot geführt hat.
Eine widersprüchliche Entwicklung, denn bei den Nutzern ist die App, mit der lustige Tanz- oder Rezeptvideos geteilt werden, äusserst beliebt. In der Pandemie explodierten ihre Zahlen. Inzwischen hat sie eine Milliarde Nutzer weltweit, in Europa sind es 150 Millionen. Auch in der Schweiz wächst Tiktok rasant – vor allem bei den Jungen. Vor zwei Jahren lag sie noch auf Rang fünf bei den beliebtesten Apps der Jugendlichen, letztes Jahr war sie schon auf Platz zwei – hinter Instagram.
Dosenbach und Mobiliar werben auf Tiktok
Das birgt offensichtlich Potenzial. Tiktok versucht mit Hochdruck, diese hohen Nutzerzahlen an Werbekunden zu verkaufen, auch in der Schweiz. Beim Referat spricht Mirco Hecker nicht über Datenschutz und mögliche Verbote, sondern darüber, wie Firmen auf Tiktok gut ankommen. Er will sie dazu bringen, dort Anzeigen zu schalten respektive bestimmte Videobeiträge anzupreisen. Marken können Posts, in denen sie vorkommen, gegen Bezahlung gezielt an Menschen mit gewissen Vorlieben schicken.
Hecker spricht von einer «Demokratisierung der Kultur». Eine Marke könne nicht vorgeben, wie sie von den Tiktok-Nutzerinnen gesehen werden soll. Nicht Hochglanz sei angesagt, sondern «Kommunikation auf Augenhöhe». Denn auch wenn Firmen kein eigenes Konto dort hätten: «Auf Tiktok finden Sie trotzdem statt!» Rolex etwa sei auf Tiktok millionenfach über Hashtags erwähnt, obwohl die Uhrenmarke dort selbst keinen Auftritt unterhält.
«Es ist ein Vorteil, dass die Schweizer Tiktok-Vertreter über die lokalen Gegebenheiten im Bild sind.»
Hecker rät den Marketingleuten, «nativ» zu agieren, also witzige Filmchen zu posten, statt dort etwa Schnipsel aus TV-Werbespots hochzuladen. «Arbeiten Sie mit Tiktok-Creators zusammen!» Und: «Behandeln Sie den Creator wie eine Werbeagentur: mit vielen Freiheiten.» Teilhabe sei wichtig.
In der Schweiz nutzen bereits erste Firmen Tiktok zu Werbezwecken. Die Schuhverkäuferin Dosenbach etwa erreichte im vergangenen Jahr 5,4 Millionen Einblendungen mit Videos, die scheinbar Belangloses zeigen: Teenies diskutieren über Schuhe, mit denen man bei einem Date beeindrucken kann, oder über die Frage, wem sie einen Schuhgutschein schenken sollten. Auch die Mobiliar wirbt dort. Sie lässt ihre Lernenden Beiträge im Tiktok-typischen Stil erstellen. Sporadisch pusht sie Videos auch mit Geld, um mehr Reichweite und Interaktionen bei bestimmten Zielgruppen zu erreichen.
«Es ist ein Vorteil, dass die Schweizer Tiktok-Vertreter über die lokalen Gegebenheiten im Bild sind und wir von ihren Erfahrungswerten auf dieser doch relativ neuen Plattform profitieren können», sagt Maximilian Lothamer, Social-Media-Chef der Mobiliar.
USA werfen Tiktok Propaganda vor
Im Vergleich zu anderen Social Media seien die Werbetarife «noch verhältnismässig günstig», sagt Tom Hanan, Chef von Webrepublic. Die Agentur steht schon länger regelmässig mit Tiktok in Kontakt und verkauft deren Werbeplätze je nach Bedarf an Werbekunden. Hanan sagt: «Mit rund 3 Millionen Nutzerinnen und Nutzern in der Schweiz ist das Potenzial für Werbetreibende auf Tiktok sehr gross – besonders, um Junge zu erreichen.»
Bei Fragen zu den Besitzverhältnissen betont Tiktok, dass die App oder die Muttergesellschaft Bytedance nicht in chinesischem Besitz sind. Bytedance sei ein privates globales Unternehmen, mit offiziellem Firmensitz auf den Cayman-Inseln. «Tiktok in Europa ist in Grossbritannien und Irland eingetragen und wird dort reguliert», sagt Hecker. Zu fast 60 Prozent gehöre Bytedance institutionellen Anlegern, etwa General Atlantic, KKR oder Softbank, und drei von fünf Vorstandsmitgliedern seien amerikanische Staatsbürger.
Und zum Datenschutz? «Das ist ein ernstes Thema», antwortet er auf die entsprechende Frage der Moderatorin im Anschluss an seinen Vortrag in Zürich. «Wir sind uns unserer grossen Verantwortung bewusst, die wir bei so vielen Nutzern haben.» Tiktok baue derzeit mehrere Datencenter in Europa: zwei in Irland, eines in Norwegen – mit dem Ziel, dass die Daten der europäischen Nutzer dort gespeichert werden können. Derzeit lagern sie in Singapur und den USA, unter externer Aufsicht der US-Firma Oracle.
Die amerikanischen Behörden überzeugt diese Argumentation nicht: Die chinesischen Gründer hätten zwar einen Anteil von 20 Prozent, aber dennoch die Kontrolle dank höherer Stimmrechte, hiess es bei der Anhörung in Washington. Die US-Regierung fordert, dass die chinesischen Anteilseigner ganz aus Tiktok aussteigen.
Die USA werfen Tiktok vor, Propaganda und Falschinformationen im Auftrag Pekings zu verbreiten. Eine Analyse des «Guardian» kommt zu Schluss, dass die Algorithmen tatsächlich Beiträge zu Themen unterdrückt, an denen sich Peking stösst, etwa zum Tiananmen-Massaker oder zu Tibets Unabhängigkeit.
Auch Facebook, Instagram und Co. sammeln viele Daten
Tiktok bestreitet, Nutzerdaten weiterzugeben. Auch stehe man nicht unter dem Einfluss der chinesischen Regierung. Für Experten gelten Tiktok und Bytedance zumindest als zwielichtig, weil sie sehr viele Daten sammeln.
Allerdings stellen sie bei anderen sozialen Netzwerken wie Instagram oder Facebook Ähnliches fest. Diese werden zwar nicht von einer kommunistischen Diktatur beeinflusst, wie es mutmasslich bei Tiktok der Fall sein könnte. Doch auch dort sind Daten nicht sicher, wie der Fall Cambridge Analytica vor rund fünf Jahren gezeigt hat. Händler auf der ganzen Welt kaufen und sammeln Nutzerdaten, anschliessend vermarkten sie sie in grossen Paketen weiter – darunter Gesundheitsdaten, Angaben über die sexuelle Orientierung und andere sensible Informationen.
Tiktok ist deshalb so erfolgreich, weil die App einen Sog entwickelt, dem sich Hunderte Millionen Menschen nicht entziehen können. Anders als bei Facebook, Instagram, LinkedIn oder Twitter muss man niemandem folgen. Tiktok wertet aus, welche Videos man länger betrachtet, wo man kommentiert und likt, und schlägt auf dieser Basis neue Inhalte vor.
«Unsere durchschnittliche Nutzungszeit pro Tag liegt bei 90 Minuten.»
Das führt mitunter zu gefährlichen Wettbewerben, die den jugendlichen Nutzern schaden und diese gar in den Suizid treiben können. Etwa mit bizarren Wettbewerbsaufrufen dazu, wie lange man die Luft anhalten oder sich selbst würgen kann. In den USA, Schottland, Italien und in Australien sind schon Kinder daran gestorben.
Der aggressive Algorithmus steht auch im Verdacht, mehr noch als Instagram, dazu beizutragen, dass Teenager in die Magersucht geraten.
Diese Kritikpunkte kommen in Heckers Referat in Zürich nicht vor. Er spricht über die immensen Zahlen. Hinter ihm ist das Tiktok-Logo eingeblendet, ausserdem Säulen, die von links nach recht zu einem Berg emporschiessen. «Unsere durchschnittliche Nutzungszeit pro Tag liegt bei 90 Minuten.» Netflix dagegen werde täglich nur 66 Minuten geschaut. Diese Daten aus der Marktforschung sollen zeigen: Tiktok ist auf dem Weg, ein grosser Teil unseres Lebens zu werden – auch in der Schweiz. Falls die App bis dahin überlebt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.