Pro und KontraIst es okay, nur an Weihnachten in die Kirche zu gehen?
Manche gehen nur zu speziellen Gelegenheiten ins Gotteshaus. Was ist davon zu halten? Über diese Frage wird auch auf unserer Redaktion debattiert.
Nein, das ist Heuchelei
Ja, ja, klar darf man in die Kirche gehen, wann immer man will. Und natürlich gibt es Schlimmeres auf der Welt, als wenn eine Atheistin oder ein Agnostiker sich an Weihnachten ein bisschen Besinnlichkeit, Erhabenheit, transzendente Feierlichkeit reinzieht, indem er oder sie ein einziges Mal im Jahr eine Messe besucht, vorzugsweise wahrscheinlich die Mitternachtsmesse.
Zum Schlimmen auf der Welt gehört aber schon auch eine ideologisch-geistige Schlabbrigkeit, die man in einer Mischung aus Schweizerdeutsch und Englisch als Foifer-und-Weggli-Anything-goes-Mentalität bezeichnen könnte. Oder schlicht als Opportunismus. Das eine lassen und das andere doch behalten, zumindest ein bisschen.
Wichtig ist nicht der Inhalt, sondern die Verpackung, genehm sind einem nicht die Anstrengungen der Tiefe, sondern das Gleiten über die Oberfläche. Aus der Kirche austreten – wofür es durchaus gute Gründe gibt –, aber sich dann beim Heiraten oder Sterben oder eben an Weihnachten doch wieder halbwegs umbesinnen. Zumindest äusserlich.
Das ist ein bisschen, wie wenn der Klimakleber nach Mexiko fliegt. Oder der neoliberale Apologet von Wettbewerb und Freihandel sich über den Sieg des antiliberalen Oberprotektionisten Donald Trump freut. Oder die Zahnärztin ihre quengelnden Kinder mit einer grossen Packung Sugus ruhigstellt.
Kann man alles machen, aber gerade wenn es um die grossen und letzten Themen geht, um Gott, Religiosität und Transzendenz – wäre da nicht ein wenig Ernsthaftigkeit und Konsequenz angebracht? Wäre es nicht geradlinig, zu einer weltanschaulichen Entscheidung zu stehen, auch wenn es den Verzicht auf ein paar Annehmlichkeiten bedeutet?
«Sie trugen Kutten mit Kapuzen, welche die Augen überdeckten. Vergoldet sind sie aussen, dass es blendet; doch innen bleiern und schwer.» Wen beschreiben diese Verse aus Dantes Göttlicher Komödie? Die Heuchler.
Ja, denn diese Offenheit ist die Essenz des Christentums
Es ist schon seltsam. Jedes Jahr machen wir ein Riesenbrimborium um Weihnachten. Mit Kerzenlicht und Krippenspiel, Sternenschmuck und Tannenbaum, Festlichkeiten und Weihnachtsliedern. Die Kinder dürfen sich mit roten Backen auf die Geschenke stürzen, die Erwachsenen ergeben sich der Völlerei und hängen Erinnerungen nach. Das ist unsere Vorstellung von Weihnachten – aber wer dazu auch noch in die Kirche gehen möchte, wird der Heuchelei bezichtigt?
Das Christentum ist eine seltsame Religion. Einerseits hat es das Abendland bis in seine tiefsten Verästelungen geprägt, von den moralischen Werten über die kulturellen Ideen bis zu den sozialen Strukturen. Dieses Erbe wurde aber dank der Aufklärung säkularisiert, jenem Geist, der die Autorität der Religion infrage stellte und Vernunft, Individualität, Freiheit und Fortschritt ermöglichte. Der Aufklärung ist es zu verdanken, dass alle frei sind, das Christentum zu kritisieren oder gar abzulehnen. Dass jeder Weihnachten so feiern darf, wie es ihm genehm ist.
Warum also sollte es sich jemand verwehren, an Weihnachten eine Kirche, vielleicht sogar die Messe zu besuchen, selbst wenn man das sonst nie tut? Selbst wenn man das noch nie getan hat? Selbst wenn man mit Gott noch nie etwas anfangen konnte und es vielleicht einfach den Verwandten zuliebe tut? Schliesslich beruht das Christentum ganz wesentlich auf dem Gedanken der Vergebung. Das heisst, man kann sich nicht nur irren, sondern auch jederzeit neu anfangen.
Nicht umsonst sind auch die Kirchen in der Schweiz grundsätzlich offen für jeden, egal, ob man nun Christ ist oder Atheist oder ob man einer anderen Religion angehört. Ein Raum als Angebot, mit Gott oder sich selbst in Kontakt zu treten, Verstorbener zu gedenken oder auch nur die Architektur zu geniessen. Dagegen kann ja wohl niemand etwas haben.
Fehler gefunden?Jetzt melden.