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Interview zum Völkerrecht
Ist die Zerstörung des Staudamms ein Kriegsverbrechen? Schweizer Jurist ordnet ein

«Die Sprengung eines Staudamms ist keine spontane Handlung von Untergebenen, sondern muss von der militärischen Führung genau geplant und durchgeführt werden»: Überschwemmung in Nowa Kachowka.
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Herr Sassòli, der Kachowka-Staudamm beim Fluss Dnjepr ist zerstört worden. Noch ist unklar, was die Folgen für Mensch und Umwelt sein werden, doch es stellt sich die Frage nach der Rechtslage. Wie beurteilen Sie als Völkerrechtsprofessor die Situation?

Im Völkerrecht ist entscheidend, ob die Zerstörung bei einem kriegerischen Angriff passierte oder ob Russland als Besetzer des Staudamms das Bauwerk zerstörte, während es unter seiner Kontrolle war. Angriffe auf Staudämme sind im Ersten Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen spezifisch erwähnt.

Inwiefern?

In Artikel 56 steht: «Anlagen oder Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, nämlich Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke, dürfen auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann.» Aber ein Motiv für einen ukrainischen Angriff auf die Staumauer sehe ich ohnehin nicht. Es ist wohl eher so, dass die Russen das Bauwerk mutwillig zerstörten, was nicht unter Artikel 56 fällt, sondern unter Besatzungsrecht, das solche Zerstörungen verbietet, ausser wenn sie für militärische Operationen unerlässlich sind.

Dass das Bauwerk gemäss russischer Besetzerlogik auf russischem Staatsgebiet steht, ist wohl völkerrechtlich irrelevant.

Das ist so. Die Kriegstaktik, dem Gegner verbrannte Erde zu hinterlassen, indem man für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Güter zerstört, ist nur auf eigenem Territorium erlaubt. Die Staumauer ist aber in der Ukraine. Übrigens hat die Ukraine zu Beginn des Krieges eigene Deiche zerstört, um sich gegen die russischen Invasoren zu wehren. Das war aber nicht in einem besetzten Gebiet, sondern auf ukrainischem Territorium.

Die Zerstörung der Staumauer von Nowa Kachowka hat womöglich auch strafrechtliche Konsequenzen.

Wenn die Genfer Konventionen und ihr Zusatzprotokoll verletzt wurden, stellt sich auch die Frage nach dem internationalen Strafrecht. Gehen Sie davon aus, dass die Zerstörung der Staumauer ein Kriegsverbrechen ist?

Gemäss dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist die Zerstörung von gegnerischem Gut, also ziviler und staatlicher Infrastruktur, allenfalls zulässig, falls dies, auch in einem besetzten Gebiet, durch die Erfordernisse des Krieges zwingend geboten ist.

Auch wenn Tausende Zivilisten ertrinken könnten?

Nein. Natürlich muss man die Zivilbevölkerung zuerst evakuieren oder wissen, dass der Gegner sie evakuiert, und die Zerstörungen dürfen nicht unverhältnismässig sein. Falls die Russen die Staumauer sprengten, müsste der Zweck ihrer Operation gewesen sein, die ukrainischen Streitkräfte am Vorrücken zu hindern.

«Dass am Ende ein Täter gefunden wird, ist für eine allfällige Anklage entscheidend und halte ich für nicht ausgeschlossen.»

Also haben wir es gemäss Ihrer Einschätzung eher nicht mit einem Kriegsverbrechen zu tun.

Das ist offen. Die Zerstörung eines Staudamms, über den ein Kriegführender die Kontrolle hat, ist auch eine Frage der Verhältnismässigkeit. Man kann nicht einfach aus Kriegsgründen Dinge zerstören und sich um Nebenwirkungen foutieren. Ich komme nochmals zurück auf das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Dieses besagt, dass ein Kriegsverbrechen begeht, wer feindliches Gut zerstört oder beschlagnahmt, sofern dies nicht durch die Erfordernisse des Krieges zwingend geboten ist. Da wird es jetzt strafrechtliche Abklärungen geben.

Und dabei muss die Täterschaft geklärt werden.

Ich denke, in diesem Kontext ist es nicht unmöglich, jenes Individuum zu finden, das die Sprengung verantwortet. Die Sprengung eines Staudamms ist keine spontane Handlung von Untergebenen, sondern muss von der militärischen Führung genau geplant und durchgeführt werden. Es muss eine Entscheidung eines Militärs gegeben haben. Dass am Ende ein Täter gefunden wird, ist für eine allfällige Anklage entscheidend und halte ich in diesem Fall für nicht ausgeschlossen. Diesbezüglich war die Herausgabe eines internationalen Haftbefehls wegen Kriegsverbrechen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin für den Internationalen Strafgerichtshof eine relativ einfache Sache. Putin sagte offiziell, dass er möchte, dass ukrainische Kinder nach Russland gebracht werden, was ein Verstoss gegen das internationale Strafrecht und damit ein Kriegsverbrechen sein könnte.