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Proteste in Israel
Netanyahu begeht kapitale Fehler – und bleibt doch unantastbar

epa11252881 Family members and supporters of Israeli hostages held by Hamas in Gaza, carrying signs and Israeli flags, light a fire during a protest rally outside the Kirya military headquarters, in Tel Aviv, Israel, 30 March 2024. According to the Israel Defense Forces (IDF), 134 Israeli hostages are currently being held by Hamas in Gaza. More than 32,500 Palestinians and over 1,450 Israelis have been killed, according to the Palestinian Health Ministry and the Israel Defense Forces (IDF), since Hamas militants launched an attack against Israel from the Gaza Strip on 07 October 2023, and the Israeli operations in Gaza and the West Bank which followed it.  EPA/ABIR SULTAN
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Sieben Menschen wurden getötet im Gazastreifen. Drei Raketen, abgefeuert von einer Drohne auf ihren Autokonvoi, haben ihr Leben beendet. Es ist eine Tragödie, doch in der Statistik dieses Krieges ist es nur eine Marginalie. Fast 33’000 Menschen sind nach Angaben der von den Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden in Gaza bereits bei den seit knapp sechs Monaten tobenden Kämpfen gestorben, zwei Drittel davon Frauen und Kinder.

Doch diese sieben Toten sind kein Fall allein für die Statistik, sondern für die grosse Politik. Die Welt schaut hin und nimmt Anteil. Israels Regierung und Armeeführung entschuldigen sich daraufhin für einen schlimmen Fehler. Der Grund: Die Opfer waren ausländische Helfer der Organisation World Central Kitchen (WCK). Die Befürchtung in Israel: Dieser Vorfall könnte weiteren Druck entfalten, die Kriegsführung im Gazastreifen zu verändern.

Bidens deutliche Worte

Was aus diesem Vorfall folgte: eine einhellige Verurteilung, weltweite Vorwürfe und eine scharfe Erklärung von Joe Biden. «Empört und untröstlich» zeigt sich der US-Präsident. Der Angriff auf humanitäre Helfer sei «kein Einzelfall», schimpfte er am Dienstag, und überhaupt habe «Israel auch nicht genug getan, um die Zivilbevölkerung zu schützen».

Premierminister Benjamin Netanyahu verband seine Entlassung aus dem Spital nach einer Leistenoperation mit der Erklärung, dass dieser Vorfall ebenso «tragisch» wie «unabsichtlich» sei und «unschuldige Menschen» getroffen habe. Entwertet hat er diese Worte allerdings durch den lapidaren Zusatz: «So etwas passiert im Krieg.» Ausserhalb Israels hat das erneut Aufregung verursacht. Polen Regierungschef Donald Tusk zum Beispiel äusserte auf X seine «Wut» über Netanyahus Reaktion. Er sieht die mit Israel stets gepflegte «Solidarität auf eine harte Probe gestellt».

Eine traumatisierte Nation

Mindestens unsensibel ist Netanyahus Satz gewiss gewesen. Faktisch aber ist er richtig, und es ist ein Satz, hinter dem sich mehr oder weniger ganz Israel verschanzt hat nach dem 7. Oktober. Der barbarische Terrorüberfall der Hamas hat das Land im Kern getroffen und existenzielle Ängste ausgelöst. Bis heute ist Israel, trotz aller in Gaza und darüber hinaus demonstrierten militärischen Stärke, eine traumatisierte und taumelnde Nation.

Im Ausland mögen die Geschehnisse vom 7. Oktober (lesen Sie hier über den Film, der die Massaker zeigt) inzwischen in den Hintergrund gerückt worden sein von den Bildern der getöteten Zivilisten und hungernden Menschen in Gaza. In Israel aber wird alles dominiert vom Verlust jeglicher Sicherheit, dem Schmerz über die eigenen Opfer, der Sorge um die von der Hamas verschleppten Geiseln und der Angst zahlloser Familien um ihre Angehörigen, die in der Armee kämpfen.

Ein Innehalten ist nicht zu erwarten

Für das Leid in Gaza bleibt da wenig Platz in den Herzen und auch in den Medien des Landes. Um mit Netanyahu zu sprechen: So ist das im Krieg – und gewiss nicht nur in Israel, sondern überall auf der Welt dürfte das so sein. Ein Innehalten als Reaktion auf den Tod der ausländischen Helfer ist deshalb nicht zu erwarten. Der internationale Druck wird zu weiterer Aufklärung führen, mit dem voraussichtlichen Ergebnis, dass ein Kommandant die Einsatzregeln missachtet hat.

Bei allem Bedauern aber wird der Tod von sieben ausländischen Helfern – ebenso wie der Tod der fast 33’000 Palästinenser in Gaza – in Israel kaum als Weckruf dafür wahrgenommen werden, dass dieser Krieg Mass und Ziel verloren hat. Netanyahu hat zwar allen Umfragen zufolge die Unterstützung der Mehrheit längst verloren. Sein Versprechen aber, die Hamas mit einem «totalen Sieg» zu vernichten, wird immer noch von einer Mehrheit als alternativlos akzeptiert.

Grösste Aufmärsche seit Kriegsbeginn

Breiter Widerstand gegen den Kurs der Regierung äussert sich bislang nur an anderen Schauplätzen, nämlich bei den zunehmend hitzigen Protesten, die jüngst zwei Forderungen miteinander verknüpft haben: ein sofortiges Abkommen zur Befreiung der Geiseln und eine baldige Neuwahl. Unter diesem Banner hat das Land in den vergangenen Tagen die grössten Aufmärsche seit Kriegsbeginn erlebt. Zehntausende waren am Samstag in Tel Aviv auf der Strasse. Am Sonntag hat sich der Protest nach Jerusalem verlagert, wo mit einer viertägigen Dauerdemo und einem Zeltlager vor der Knesset Druck auf die Regierung ausgeübt werden sollte.

Angefühlt hat es sich für die Organisatoren und für die Teilnehmer wohl wie ein Revival der Proteste gegen die Justizreform, an denen im vorigen Jahr neun Monate lang bis zum verhängnisvollen 7. Oktober Hunderttausende teilgenommen hatten. Einigkeit besteht bei allen darin, dass Netanyahu endlich entmachtet werden soll. Wie viel Wut und auch Verzweiflung dahinterstecken, war am Dienstagabend zu beobachten, als ein Teil der Demonstranten zu Netanyahus privatem Wohnsitz in Jerusalem zog, die aufgebauten Barrikaden stürmte und sich eine Strassenschlacht mit der Polizei lieferte.

Doch jenseits dieses gemeinsamen Netanyahu-Nenners herrscht innerhalb dieser Protestbewegung weit weniger Einigkeit als beim Kampf gegen die Justizreform und für Israels Demokratie. Klarheit besteht nicht einmal darüber, welchen Preis man für die Freilassung der Geiseln zu zahlen bereit ist. Die Frage von Krieg und Frieden wird weitgehend ausgeklammert oder sehr im Vagen gehalten.

Trotz Zehntausender Menschen auf den Strassen fällt es Netanyahu deshalb bislang relativ leicht, sich dem Druck der Proteste zu entziehen. Als sich die Demonstranten am Sonntag vor der Knesset sammelten, berief er eilig eine Pressekonferenz ein, in der er die Einigkeit des Volkes beschwor. Wahlen würden das Land in Kriegszeiten nur paralysieren, freuen könnte sich darüber allein die Hamas. Und während die Demonstranten die Schilder hochhalten mit den Fotos der Geiseln, hängen überall im Land die riesigen Banner mit dem Spruch: «Gemeinsam werden wir siegen».