Interview zur israelischen Bodenoffensive«Jeder tote Hamas-Terrorist wird ersetzt»
Militärexperte Mauro Mantovani bezweifelt, dass die israelischen Streitkräfte die Hamas endgültig ausschalten können. Die Terrororganisation verfüge über panzerbrechende Munition und ein grosses Nachwuchs-Reservoir.
Herr Mantovani, seit der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober sind gut drei Wochen vergangen. Seit Freitagabend ist nun die Bodenoffensive im Gang. Allerdings handelt es sich offenbar nicht um eine breit angelegte Invasion. Wie genau gehen die Israelis vor?
Die israelische Armee stösst von Norden und Süden auf Gaza-Stadt vor. Kleinere Verbände riegeln langsam, Schritt für Schritt die Einsatzräume ab und säubern sie dann systematisch von Kämpfern der Hamas und weiterer Gruppen. Offenbar dringen erste israelische Kräfte schon in die Stadt vor. Dabei kommt es zu intensiven Gefechten. Das taktische Vorgehen entspricht den Lehrbüchern zum Kampf im überbauten Gelände.
Weshalb hat die israelische Armee so lange gewartet mit dem Einmarsch?
Die Armee musste eine Mobilmachung durchführen und Israel wollte den Spielraum für Verhandlungen, insbesondere für die Freilassung von Geiseln, ausloten. Die Verzögerung gründete aber auch in tiefen Zweifeln, ob eine Militäroperation die politischen Ziele erreichen könne: endgültige Ausschaltung der Hamas bei geringen Verlusten an eigenen Soldaten und an zivilen Opfern auf der Gegenseite.
Was verfolgen die Israelis sonst noch für Ziele?
Der Einmarsch im Gazastreifen soll weder eine neuerliche Intifada in Israel auslösen, noch die Friedensverhandlungen mit der arabischen Welt vereiteln. Auch ein regionaler Flächenbrand mit iranischer Beteiligung soll verhindert werden. All dies sind absehbare Folgen der Operation «Swords of Iron».
Wie gross sind die Überlebenschancen der Geiseln noch angesichts der Bodenoffensive?
Sie sind kleiner geworden, weil die Geiseln jetzt noch mehr als menschliche Schutzschilde missbraucht und zum möglichen «Kollateralschaden» werden können. Auch Repressalien gegen diese Geiseln sind nun noch wahrscheinlicher geworden.
«Infanterie kann aus allen Richtungen unter Beschuss geraten.»
Was ist die grösste Herausforderung für die israelischen Streitkräfte in ihrem Kampf im Gazastreifen?
Der Eigenschutz. Infanterie kann aus allen Richtungen unter Beschuss geraten. Selbst gepanzerte Fahrzeuge müssen mit Abschuss rechnen, da die Hamas über panzerbrechende Munition, z.B. Rocket-propelled Grenades, RPG-7 und -29, verfügt. Die Hamas behauptet sogar, schultergestützte Flugabwehrsysteme zu besitzen, die gegen Helikopter und Kampfflugzeuge eingesetzt werden könnten. Es sollen «Manpads» der Typen SA-7, SA-18, SA-24 sein.
Die Israelis erwarten, dass die Hamas das Schlachtfeld vorbereitet hat. Was heisst das konkret?
Die Hamas soll Minen und Sprengfallen verlegt und zahlreiche Schusspositionen in Gebäuden eingenommen haben. Israel hat mit rund 30'000 Kämpfern der Hamas zu rechnen, die sich im Kampfgebiet auskennen und das weitgefächerte Tunnel-System nutzen.
Der Kampf findet zum Teil im überbauten Gebiet statt. Der Häuserkampf gilt als militärischer Gleichmacher. Heisst das, dass die Hamas-Terroristen ein ebenbürtiger Gegner sind für die israelischen Streitkräfte?
Der Kampf im überbauten Gelände begünstigt tatsächlich den Verteidiger. Aber selbst wenn die Hamas mehr Verluste erlitte als die israelische Armee, könnte sie mit ihrem Kampf auf viele Sympathien weit über die arabische Welt hinaus zählen, während Israel international fast nur verlieren kann. Die demografische Entwicklung begünstigt ebenfalls die Hamas, wie die Erfahrung zeigt: Jeder tote Hamas-Terrorist wird ersetzt. Wenn ein Kampf politisch derart asymmetrisch ist, kann keine einfache Gewinn- und Verlustrechnung gemacht werden.
«Die Hamas hat die Vorteile langjähriger Kampferfahrung und vieler Rückzugsräume, in Gebäuden und unterirdisch.»
Unter diesen Umständen: Welche Vorteile liegen auf der Seite der Israelis?
Die Israelis haben eine vielfache Überlegenheit an Feuerkraft, aus der Luft wie am Boden, und sie haben ein vollständigeres Lagebild des Kampfgebietes. Diese Vorteile ergeben sich aus der fast vollständigen technologischen Überlegenheit. Hinzu kommt eine rund zehnfache Überlegenheit an Soldaten.
Und welche aufseiten der Hamas?
Die Hamas hat die Vorteile langjähriger Kampferfahrung und vieler Rückzugsräume, in Gebäuden und unterirdisch. Hinzu kommt, dass es der Hamas leichter fällt, zivile palästinensische Opfer propagandistisch auszuschlachten, wie aktuell bei der Bombardierung des Flüchtlingslagers Jabalia.
Es kursieren Bilder von israelischen Panzern im Gazastreifen. Können Panzer in diesem dicht besiedelten Gebiet überhaupt effizient eingesetzt werden?
Ich gehe davon aus, dass gepanzerte Fahrzeuge nur auf den Hauptverkehrsachsen und gegen primäre Zielobjekte wie etwa die Hauptquartiere der Hamas eingesetzt werden, und dies mit Feuerschutz.
«Die soziale Misere und Perspektivlosigkeit im Gazastreifen hält die radikale Ideologie am Leben.»
Die Hamas hat viele Tunnel gebaut. Wie erobert man die? Füllt man sie einfach mit Beton, oder müssen Soldaten einsteigen?
Ich bezweifle, dass Soldaten in die Stollen eindringen werden. Ich vermute eher, dass sich die israelische Armee darauf beschränken wird, das Tunnelsystem zu kartografieren, um es in Zukunft, nach dem Rückzug ihrer Truppen, noch präzisier bekämpfen zu können. Natürlich könnte man das System temporär unbrauchbar machen, etwa indem man die Zugänge verschüttet oder es flutet, aber eine Wiederinbetriebnahme wäre so nicht dauerhaft zu verhindern.
Inwiefern kann die Hamas überhaupt besiegt werden?
Die soziale Misere und Perspektivlosigkeit im Gazastreifen hält die radikale Ideologie am Leben und damit auch die Hamas an der Macht. Sie ist die alleinige politische Vertretung, nimmt neben dem bewaffneten Kampf aber auch soziale und religiöse Funktionen wahr und ist so mit der Bevölkerung untrennbar verbunden. Eine Separierung von politischer Führung und Bevölkerung wäre äusserst schwierig, geschweige denn eine Vertreibung.
In einen Krieg reinzugehen, ist einfacher, als aus einem rauszukommen. Wie müsste eine erfolgreiche Exit-Strategie aussehen?
Der ideale Endzustand aus israelischer Sicht ist ein befriedeter und demilitarisierter Gazastreifen. Die Voraussetzungen dafür wären eine sozioökonomische Entwicklung und ein Wechsel zu einer kooperativen Regierung. Zugleich müsste die Hamas entwaffnet und die Wiederbewaffnung und der Waffenschmuggel müssten dauerhaft unterbunden werden, was ein Kontrollregime an den Grenzen und im Innern des Gazastreifens erfordert. Theoretisch denkbar wäre hierfür auch das Modell eines Staatsaufbaus, abgesichert durch dauerhafte Militärpräsenz, wie es eine amerikanisch geführte Koalition im Irak und in Afghanistan versuchte. Der Preis hierfür wäre aber schlicht zu hoch und die Erfolgsaussichten verschwindend gering.
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