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Prozess gegen KZ-Sekretärin
Oberstes deutsches Gericht: Urteil wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10’000 Fällen ist rechtskräftig

FILE - Irmgard Furchner, accused of being part of the apparatus that helped the Nazis' Stutthof concentration camp function, appears in court for the verdict in her trial in Itzehoe, Germany, Dec. 20, 2022. (Christian Charisius/Pool Photo via AP, File)
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Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Urteil gegen die frühere Sekretärin des NS-Konzentrationslagers (KZ) Stutthof, Irmgard F., wegen Beihilfe zum Mord in 10’505 Fällen rechtskräftig. Der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) verwarf am Dienstag in Leipzig die Revision der inzwischen 99 Jahre alten Frau gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein.

Dieses hatte eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verhängt. F. hatte in den Jahren 1943 bis 1945 als Stenotypistin im Geschäftszimmer des Lagerkommandanten im KZ Stutthof in der Nähe von Danzig gearbeitet. Sie war damals 18 bis 19 Jahre alt. Da es auf das Alter zum Tatzeitpunkt ankommt, fand das Verfahren in Itzehoe gegen sie vor einer Jugendkammer statt.

Das Urteil gegen F. ist das möglicherweise letzte gegen Täter oder Mittäter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Es ist ausserdem das erste gegen eine Zivilangestellte eines Konzentrationslagers. Bei der Prüfung, ob jemand eine Tat – wie hier Massenmord – gefördert habe, komme es nicht darauf an, «ob der Gehilfe Uniform trägt», sagte die Vorsitzende Richterin Gabriele Cirener bei der Urteilsverkündung. Allein entscheidend seien die konkrete Tätigkeit und deren Bedeutung für die Haupttaten.

Irmgard F. arbeitete eng mit dem Lagerkommandanten zusammen

Diese Bedeutung sah das Landgericht als gegeben, und der BGH bestätigte dessen Auffassung. «In einer bürokratisch verfassten staatlichen Tötungsmaschinerie ist die Tätigkeit der das Vertrauen der Haupttäter geniessenden Bürokraft – der einzigen Bürokraft – von grundlegender Bedeutung für das Funktionieren dieser Maschinerie», sagte Cirener.

Im KZ Itzehoe hatte die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten. Etwa 65’000 starben nach Erkenntnissen von Historikern. Stutthof war berüchtigt für eine völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen, die von den Verantwortlichen zu Tötungszwecken absichtlich herbeigeführt wurde.

Die meisten Menschen starben an Hunger, Durst, Seuchen und schwerster Sklavenarbeit. Es gab dort aber auch Gaskammern und eine Genickschussanlage, in der kranke und zur Zwangsarbeit nicht mehr fähige Gefangene systematisch und gezielt getötet wurden.

Irmgard F. sei «zuverlässige und gehorsame Untergebene» gewesen

Nach dem Urteil in Itzehoe wandte sich F. an den BGH, um es höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Der BGH fand aber nun keine Rechtsfehler zu ihrem Nachteil und bestätigte das Urteil aus Schleswig-Holstein.

F. habe als einzige Sekretärin in Stutthof «vertrauensvoll und eng mit dem Lagerkommandanten» zusammengearbeitet und einen grossen Teil von dessen dienstlicher Korrespondenz erledigt, führte Richterin Cirener aus. Die Angeklagte habe der Lagerleitung als «zuverlässige und gehorsame Untergebene» zur Verfügung gestanden.

Sie sei an einer zentralen Schnittstelle des Lagers tätig gewesen und habe den Kommandanten und dessen Adjutanten physisch und psychisch bei den Morden unterstützt. Diese und die weiteren Feststellungen des Landgerichts halten laut BGH rechtlicher Prüfung stand.

Zentralrat der Juden spricht von «klarer Botschaft»

Das Landgericht war überzeugt davon, dass F. umfassende Einsicht in den Tötungsbetrieb des Lagers hatte. Sie habe den katastrophalen körperlichen Zustand der Gefangenen, ihre mangelnde Versorgung mit Nahrung und angemessener Kleidung und die mangelhaften hygienischen Zustände gesehen und jeden Tag den Geruch verbrannten Menschenfleischs wahrgenommen, der aus dem Schornstein des Krematoriums kam. F. habe von den Mordtaten gewusst und auch davon, dass sie mit ihrer Arbeit die Lagerleitung dabei unmittelbar unterstützt habe.

In einer ersten Reaktion auf die Entscheidung erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, das Rechtssystem habe «eine klare Botschaft gesendet – auch fast 80 Jahre nach der Schoa darf kein Schlussstrich unter die NS-Verbrechen gezogen werden».

DPA/nlu