Kommentar zur Corona-StrategieGrabesstille im Bundeshaus
Corona hat sich zum Kontinentalbrand entwickelt, doch unser Bundesrat schweigt und beobachtet. Eine riskante Taktik.
Die Corona-Daten an diesem Mittwoch: fast 6000 Neuinfektionen innert 24 Stunden – 2000 mehr als am Mittwoch vor einer Woche. Die Zahl der Hospitalisierungen: steigend; ebenso der Reproduktionswert. Jeder Corona-Infizierte steckt durchschnittlich mittlerweile 1,3 Menschen an. Läuft es so weiter, könnten wir die Schwelle von 10’000 Erkrankten pro Tag nächste Woche überschreiten.
Und das ist nur die Situation in der Schweiz. Die Zahlen gehen in ganz Europa durch die Kathedralendecke. In Österreich ist das Spitalwesen mancherorts kollabiert. In Bayern sind die Zustände ähnlich prekär. Überall treiben die Staaten mit Hochdruck die Booster-Impfkampagnen voran, ergreifen Massnahmen. In Wien wird eine Ausgangssperre für die Gesamtbevölkerung erwogen.
«Die Lage ist dramatisch», warnt Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, und nicht nur sie: Appelle, Informationen und Mahnungen erschallen von allen Regierungspodien des Kontinents. Und was tut der Bundesrat?
Nun, es war Mittwoch, und der Bundesrat tagte, wie er jeden Mittwoch tagt. Und er verabschiedete Beschlüsse. Zum Beispiel eine Strategie über nachhaltige Finanzanlagen. Oder über die Stromversorgung von Sendeanlagen des Bundes. Oder Massnahmen für die internationale Währungshilfe.
Der Gesamtbundesrat hat seit Wochen zur Pandemie nichts Substanzielles mehr verlauten lassen.
Zu Corona: nichts. Dem Vernehmen nach datierte Gesundheitsminister Alain Berset (SP) das Kollegium mit einer Informationsnotiz über die Lage auf. Aber weder hat das Gremium Massnahmen ergriffen, noch gab es irgendeinen Kommentar. Weder Berset noch Bundespräsident Guy Parmelin traten nach der Sitzung vor die Medien. Überhaupt hat der Gesamtbundesrat seit Wochen zur Pandemie nichts Substanzielles mehr verlauten lassen.
Natürlich: Erklärter Gradmesser ist hierzulande die Situation der Spitäler. Noch sind die Schweizer Krankenhäuser nicht überlastet. Doch wenn es nicht gelingt, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, wird auch unser Gesundheitswesen sehr bald an seine Grenzen stossen. Einmal mehr kommt der Verdacht auf, dass der Bundesrat einen Notstand lieber erst eintreten lässt, ehe er ihn bekämpft.
Durch kontinuierliches Schweigen signalisiert die Regierung, dass die Lage so ernst ja nicht sein kann.
Noch naheliegender ist ein anderer Verdacht (der offiziell scharf dementiert wird): dass nämlich Berset und seine Mitregierenden taktieren. Am 28. November stimmt das Volk über das Covid-19-Gesetz ab. Die Gegner fahren eine Kampagne von maximaler Schrille, sie warnen vor weitreichenden Beschränkungen der Freiheit. Seit Monaten nun unterlässt der Bundesrat auffälligerweise jeden Schritt, der im Volk schlechte Laune machen könnte.
Sollte das Taktik sein, ist sie doppelt gewagt. Erstens lässt es die pandemische Lage wohl nicht zu, bis zum Abstimmungstermin untätig zu bleiben. Und zweitens könnte die bundesrätliche Passivität der Vorlage schaden, weil sie deren Charakter missachtet. Niemand «will» Covid-Zertifikate, aber wir brauchen sie. Das Covid-19-Gesetz ist ein Notstandsgesetz, und einem solchen stimmt zu, wer den Notstand anerkennt. Durch kontinuierliches Schweigen sendet die Regierung das Signal aus, dass die Lage so ernst ja nicht sein kann.
Am 24. November trifft sich der Bundesrat zur nächsten ordentlichen Sitzung. Schweigen oder lavieren ist dann keine Option mehr. Aber das ist es im Grund schon jetzt nicht mehr.
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