Gastbeitrag zum GesundheitswesenUnsere Gesundheit gehört in die Verfassung
Geht es um Spitalplanung, Arzttarife oder Prämienrunden, herrscht grosses Kompetenzwirrwarr. Zwei ehemalige Regierungsräte sagen, was es nun braucht.
Die Schweiz befindet sich in einer paradoxen politischen Situation: Die Initiativen zur Prämienverbilligung und zur Kostenbremse wurden abgelehnt, indirekte Gegenvorschläge sollen in Kraft treten, und dennoch herrscht Einigkeit darüber, dass diese nicht ausreichen werden. Angesichts der enormen Herausforderungen im Gesundheitssystem wird der Ruf nach mehr Steuerung und mehr Bundeskompetenzen lauter.
Unser Gesundheitssystem hat sich in den letzten 30 Jahren durch Revisionen des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) und die Erweiterung der sektoriellen Kompetenzen des Bundes entwickelt, ohne übergeordnete Koordination, ohne Leitlinien. Das Ergebnis: eine grosse Fragmentierung, unklare Zuständigkeiten, verschiedenartige Finanzierungen, unterschiedliche Tarifstrukturen. Dort, wo Veränderungen dank Vereinheitlichung beschlossen sind, werden sie sofort wieder infrage gestellt. Dies ist eine schlechte Ausgangslage angesichts der Herausforderungen wie Digitalisierung, Innovationsdruck oder Erschöpfung der Gesundheitsfachkräfte.
Pflaster auf einem kranken Körper
Hinzu kommt: Die aktuelle Gesetzesarchitektur regelt das Gesundheitssystem über ein Sozialversicherungsgesetz (nämlich das KVG). Das KVG schränkt die Kompetenzen der Kantone ein, ohne jene des Bundes zu stärken. Alle in diesem Rahmen in Betracht gezogenen Heilmittel werden daher nur Pflaster auf einem kranken Körper sein.
Es braucht einen Paradigmenwechsel, um die Schweiz mit einer echten Gesundheitspolitik auszustatten: Gesundheit muss als ganzheitliches Konzept verstanden werden im Sinne von «One Health» an der Schnittstelle von Mensch, Tier und Umwelt. Das bedeutet «Gesundheit in allen Lebensbereichen» und damit auch «Gesundheit in allen Politikbereichen». Der dazu nötige Rahmen wäre ein Verfassungsartikel zur Gesundheit und darauf aufbauend ein Bundesgesetz. So schlägt es auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften vor.
Ein solches Gesetz erlaubt, Ziele für die öffentliche Gesundheit zu definieren und ein System zu etablieren, das die Steuerung des Gesundheitssystems ermöglicht. Ein Bundesgesetz über die Gesundheit würde die Zuständigkeiten von Bund und Kantonen klären. Der Nutzen? Klare Verhältnisse, Entwirrung der Kompetenzen, überschaubare Prozesse, die Klärung der Finanzierungsströme, mehr Qualität, mehr Effizienz.
Was bedeutet ein solcher Ansatz für die Kantone? Der Föderalismus ist in der DNA der Schweiz, aber er soll nicht verhindern, zeitgemässe Lösungen zu finden. Wenn die Kantone objektiv betrachten, wie das KVG sie heute in ihrer Autonomie einschränkt, wenn sie ehrlich prüfen, wie viel ihres Gesundheitsbudgets noch von eigenen kantonalen Entscheidungen abhängt und wie viel Zeit ihre Ämter für Themen aufwenden, die nicht unmittelbar zum Vollzug des KVG gehören: Dann sollten sie die Aussicht auf eine Bundesgesetzgebung unterstützen, die ihre Kompetenzen klärt statt bedroht.
Unsere Gesundheit muss es wert sein, explizit in der Verfassung verankert zu werden. Als Gewinn für die 9 Millionen Menschen in unserem Land und die 650’000 Angestellten des Schweizer Gesundheitssystems. Dies bringt selbstverständlich auch Vorteile für die Kantone.
Thomas Heiniger (FDP) war von 2007 bis 2019 Gesundheitsdirektor des Kantons Zürich. Laurent Kurth (SP) war von 2012 bis Februar 2024 Gesundheitsdirektor von Neuenburg.
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