Never Mind the MarketsGeringeres oder höheres BIP pro Kopf?
Je nach Studie hat die Zuwanderung andere Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt. Ökonom Mathias Binswanger klärt auf.
Am 27. September stimmen wir in der Schweiz über die Begrenzungsinitiative ab. Kein Wunder werden wir jetzt online and offline mit Botschaften bombardiert, die eine der zwei folgenden Aussagen enthalten: A) Die Annahme dieser Initiative schützt uns vor einem zukünftigen Ansturm von EU-Bürgern, welche die Schweiz in den nächsten Jahren überfluten würden und unsere Sozialsysteme ruinieren. B) Die Annahme dieser Initiative bedeutet das Ende des starken Wirtschaftsstandortes Schweiz und zerstört unsere guten Beziehungen zur EU
Vielen Menschen fällt wahrscheinlich auf, dass sich A) und B) widersprechen. Trotzdem werden beide Positionen mit entsprechenden Studien gestützt. So betonen die Gegner der Begrenzungsinitiative (welche sie lieber Kündigungsinitiative nennen), dass bei einer Annahme die bilateralen Verträge (Bilaterale I) mit der EU wegen der Guillotine-Klausel automatisch gekündigt würden. Und was das für die Schweiz wirtschaftlich bedeutet, wurde schon in mehreren Studien aus dem Jahr 2015 berechnet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) würde 2035 um 4.9 Prozent (Ecoplan) beziehungsweise 7.1 Prozent (BAKBASEL) tiefer als im Szenario mit den Bilateralen I liegen. Und das BIP pro Kopf würde 2035 um 1.5 Prozent (Ecoplan) beziehungsweise 3.9 Prozent (BAKBASEL) tiefer als im Szenario mit den Bilateralen I liegen.
Wie kommen die Institute auf solche Zahlen?
BAKBASEL und Ecoplan haben dazu die Entwicklung der Schweizer Volkswirtschaft, einmal mit den Bilateralen I (Basisszenario) und einmal ohne die Bilateralen I (Szenario «Wegfall») simuliert. Letztlich kommt dabei einfach das heraus, was man als Annahmen in solche Simulationen reinsteckt. Das zeigt schon der grosse Unterschied zwischen den Simulationsresultaten der beiden Institute. Dieser lässt sich im Wesentlichen dadurch erklären, dass BAKBASEL zusätzlich noch einen kollektiven «systemischen Effekt» des Wegfalls der Bilateralen I aus ihrer Modellwundertüte gezaubert hat. Dieser systemische Effekt führt zu einer Minderung der Standortattraktivität für Unternehmen und beschert dem BIP in der Simulationsrechnung einen zusätzlichen negativen Effekt.
Interessanter als die konkreten Resultate ist die Bedeutung, die dem Wegfall der einzelnen Abkommen beigemessen wird. Den weitaus grössten Effekt hätte der Wegfall der Personenfreizügigkeit gefolgt von der Kündigung des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse und des Luftverkehrsabkommens. Die Kündigung der übrigen Abkommen hätte hingegen einen vernachlässigbaren Einfluss auf das zukünftige BIP. Mit anderen Worten: Die Guillotine-Klausel wäre nicht zentral für die negativen wirtschaftlichen Folgen, sondern vor allem der Wegfall der Personenfreizügigkeit selbst.
Klar dass solche Studien niemanden überzeugen, der sich vor einer 10-Millionen-Schweiz fürchtet. Bei den Befürwortern der Initiative herrscht eine andere Weltsicht, die auch nach anderen Studien verlangt. Im Auftrag der «Stiftung für bürgerliche Politik», welche der SVP nahesteht, wurde eine Studie beim Londoner Think Tank «Europe Economics» in Auftrag gegeben, welche dieses Jahr publiziert wurde. Und es zeigt sich: das Resultat ist tatsächlich anders. Bei dieser Studie wurde nicht in die Zukunft geschaut, sondern es wurde simuliert, wie sich das BIP pro Kopf in der Schweiz ohne Zuwanderung von 2002 bis 2017 entwickelt hätte. Das Ergebnis: wir hätten 2018 ein um 4.4 Prozentpunkte höheres BIP pro Kopf gehabt. Allerdings liegt das nur zu einem kleinen Teil an der Personenfreizügigkeit, welche das BIP pro Kopf gerade mal um 0.7 Prozent verringert hätte. Die Studie sollte vielmehr generell aufzeigen, dass unkontrollierte Zuwanderung das BIP pro Kopf negativ beeinflusst. Und in einem Punkt deckt sich die Studie dann doch noch mit den vorher erwähnten Studien der BAKBASEL und von Ecoplan: die übrigen bilateralen Abkommen hatten praktisch keinen Einfluss auf das BIP pro Kopf.
Lebensraum Schweiz versus Wirtschaftsstärke
Was sagt uns dieser Blumenstrauss an Studienresultaten? Erstens: bei politisch motivierten Studien kommt immer das heraus, was herauskommen soll. Das SECO, welches 2015 die Studien zum Wegfall der Bilateralen in Auftrag gab, wollte zeigen, dass dieser Wegfall der Schweizer Wirtschaft schadet. Und die SVP wollte mit ihrer Studie zeigen, dass Personenfreizügigkeit sich negativ auf das BIP pro Kopf auswirkt. Et voilà: Alle gewünschten Resultate konnten mit Studien wissenschaftlich «erhärtet» werden.
Zweitens sehen wir auch, dass der Effekt auf das BIP pro Kopf bei allen Studien erstaunlich gering ist. Letztlich läuft die Abstimmung somit auf folgende ökonomische Frage hinaus: wollen wir ein höheres Wachstum des BIP mit höherem Wachstum der Bevölkerung (ohne Begrenzungsinitiative) oder ein geringeres Wachstum des BIP mit geringerem Wachstum der Bevölkerung (mit Begrenzungsinitiative)? Das Wachstum des BIP pro Kopf wäre dann bei beiden Varianten etwa gleich hoch. Allerdings führt Variante 1 zu einer zunehmenden Belastung des Lebensraumes Schweiz. Und Variante 2 verursacht der Wirtschaft eine Reihe zusätzlicher Komplikationen. Die Gegner der Begrenzungsinitiative sollten deshalb glaubhaft aufzeigen, wie den Befürchtungen vor einer 10-Millionen-Schweiz auch ohne Annahme der Initiative begegnet werden kann.
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