Gastbeitrag zum GeburtenrückgangWeniger Menschen sind eine Chance
Bevölkerung und Wirtschaft werden schrumpfen. Wir sollten uns frühzeitig darauf vorbereiten, statt auf veraltete Wachstumsmodelle zu setzen.
Kürzlich gab es Good News für Klima und Umwelt: Die Menschheit wird schrumpfen! Nicht morgen, aber gegen Ende des Jahrhunderts. Das hilft nichts im aktuellen Kampf gegen die Klimakrise und den Verlust an Biodiversität, aber zumindest langfristig werden sich viele Umweltprobleme entschärfen.
Doch wie reagieren wir? Beinahe panisch. Krampfhaft versuchen wir, die Geburtenraten hochzuhalten. In Südkorea werden Milliarden ausgegeben für Nachwuchsprogramme. In Frankreich, das über lange Zeit eine der höchsten Geburtenraten Europas aufwies und jetzt eine Trendwende erlebt, soll die Entschädigung während des Elternurlaubs massiv erhöht werden. Und in der Schweiz werden bessere Betreuungsangebote für Familien mit Kindern gefordert.
Die Idee dahinter: Nur wenn wir genügend Nachkommen zeugen und weiterwachsen, können wir unsere Renten und Gesundheitskosten finanzieren und unseren Wohlstand halten. Wir tun das, was wir immer tun, wenn es Probleme mit unserer Wirtschaft gibt: Wir rufen nach mehr Wachstum, ungeachtet der negativen Auswirkungen, die es mit sich bringt.
Doch die Indizien häufen sich, dass es in Zukunft vermehrt zu Schrumpfprozessen kommen wird, die wir nicht werden verhindern können. Viele Volkswirtschaften – die USA, Europa, die asiatischen Staaten und jüngst auch China – haben die Jahre ihres grössten Wachstums hinter sich. Ohne teils massive Staatsinterventionen würden sie kaum mehr wachsen. Ernteausfälle und Schäden an Infrastrukturen, hervorgerufen durch extreme Wetterereignisse, den Klimawandel und den Biodiversitätsverlust, werden die Wirtschaftsentwicklung stark dämpfen.
Vieles fällt uns einfacher, solange wir wachsen. Trotzdem sind jetzt Modelle gesucht, bei denen unsere Wirtschaft weiterhin funktioniert, selbst wenn wir schrumpfen. Wie können wir Altersvorsorge und Gesundheitswesen ausgestalten, dass sie auch ohne Wirtschaftswachstum unsere Bedürfnisse befriedigen? Wie unterhalten wir unsere Infrastrukturen, wenn weniger Mittel zur Verfügung stehen? Und wie können Unternehmen innovativ bleiben, selbst wenn sie nicht nach maximalem Wachstum streben?
Von den Japanern lernen
Es gibt viele Ideen, wie wir unsere gesellschaftlichen Errungenschaften mit gleich viel oder gar weniger Geld sichern können. Obligatorische Bürgerdienste oder freiwillige, unbezahlte Einsätze in der Betreuung betagter und kranker Menschen sind eine Möglichkeit. Weniger in neue Infrastrukturen investieren, damit in Zukunft weniger Unterhaltsbedarf und weniger Kosten entstehen, eine andere. Mehr Dienstleistungsangebote ermöglichen Unternehmen ein Fortkommen, ohne dass sie mengenmässig wachsen müssen.
Lernen können wir zudem von der Entwicklung in Japan, dessen Bevölkerung seit langem abnimmt. Nicht mehr benötigte Infrastrukturen werden umgenutzt, die Menschen arbeiten länger, und die Gesundheitsprävention wird verstärkt, damit ältere Menschen länger gesund bleiben und weniger Pflegeleistungen brauchen.
Patentrezepte im Umgang mit dem Schrumpfen gibt es nicht – doch es ist besser, sie ernst zu nehmen, auszutesten und weiterzuentwickeln, als auf ein Modell zu setzen, das seinen Zenit überschritten hat. Dass davon auch die Umwelt profitiert, ist ein willkommener Nebeneffekt.
Ion Karagounis ist beim WWF Schweiz verantwortlich für neue Wirtschaftsmodelle und Zukunftsfragen.
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