Reportage zur MedienabstimmungFrühmorgens unterwegs mit der Zeitungsfee
Bei einem Ja am 13. Februar wird die Frühzustellung von Zeitungen mit 40 Millionen Franken subventioniert. Aber wie funktioniert die überhaupt? Und wer profitiert davon?
Aus dem vierten Briefkasten, in den Sibylle Andrianello einen «Tages-Anzeiger» legt, fischt sie einen Briefumschlag. Er ist mit nur einem Wort adressiert: «Zeitungsfee». Der Kunde wünscht auf einem Kärtchen, etwas verspätet, ein gutes neues Jahr. «Ich unterschreibe selbst mit Zeitungsfee, wenn ich den Leuten meine Festtagsgrüsse in den Briefkasten lege», sagt Andrianello.
Um die Zeitungsfee persönlich zu treffen, hätte der Kunde früh aufstehen müssen: Es ist kurz nach drei Uhr morgens, finster und kalt, wenn sie ihre Tour in Ottenbach beginnt. Sechs Tage in der Woche, von Montag bis Samstag. Heute sind es neben dem Tagi die NZZ, der «Blick», der «Limmattaler», «Finanz und Wirtschaft» und die «Schweizer Familie».
«Sudoku mit Zeitungen»
Total 144 Exemplare dieser Titel verteilt Andrianello in anderthalb Stunden. An der Buswendeschleife beim Volg in Ottenbach ZH lädt sie die Stapel auf den Beifahrersitz ihres Familienautos und sortiert sie. Dann fährt sie los, mit Fotografin und Reporter auf der Rückbank.
Ihre Tour durchs Dorf kennt sie auswendig. Nur hin und wieder muss sie einen Blick auf den Ringhefter werfen, wo Änderungen und Ferienabwesenheiten notiert sind. «Es gibt auch eine App, die stets aktuell ist, aber ich finde den Plan auf Papier praktischer», sagt Andrianello.
Sie fährt kaum je mehr als ein paar Dutzend Meter am Stück. Dann steigt sie aus, knipst die Stirnlampe an und geht – nein: Sie eilt im Sturmschritt – zu den Briefkästen.
Husch, husch, zurück ins Auto, dann weiter, genau nach Plan. «Das ist wie ein Sudoku mit Zeitungen», sagt Andrianello, «alles muss aufgehen. Wenn ich am Schluss ein Exemplar zu viel habe, weiss ich, dass ich einen Fehler gemacht habe.»
Sibylle Andrianello ist eine von 9000 Frauen und Männern, die in der Schweiz jeden Tag dafür sorgen, dass Zeitungen und Zeitschriften vor 6.30 Uhr bei ihren Leserinnen und Lesern landen. Ein halbes Dutzend Verträgerorganisationen decken einen Grossteil der Schweiz ab.
Die Hälfte aller Zeitungsexemplare gelangen auf diesem Weg in die Briefkästen. Dass das schon vor dem Frühstück passiert, ist für viele Abonnenten wichtig. Aber Frühzustellung ist für die Verlage teuer, denn sie wird nicht vom Bund subventioniert. Für die Zustellung per Post dagegen zahlt der Bund 29 Rappen pro Exemplar. Die Zeitung liegt so jedoch erst gegen Mittag im Kasten.
Das Medienpaket des Bundes, über das das Volk am 13. Februar abstimmt, sieht vor, dass der Bund die Frühzustellung neu mit 40 Millionen Franken unterstützt. Das wäre eine Erleichterung für die Verlage: Der Vertrieb macht im Durchschnitt ein Fünftel der Kosten aus.
Die Zeitung zum Frühstück
«Die Zeitung läge nicht mehr auf dem Zmorgetisch», sagt Susanne Lebrument über die Folgen eines Neins zum Medienpaket. Als Verwaltungsratspräsidentin des Bündner Verlagshauses Somedia ist Lebrument Verlegerin von über einem Dutzend Regional- und Lokalblättern von Glarus bis Südbünden.
GLP-Präsident und Nationalrat Jürg Grossen ist ein Gegner des Medienpakets. Er sagt: «Die Frühzustellung ist für mich nicht förderungswürdig.» Grossen stört sich daran, dass die Subventionen in die Verteilung von bedrucktem Papier statt in journalistische Qualität fliessen.
Auf bedrucktem Papier, allerdings, gelangen immer weniger Zeitungsexemplare in die Hände ihrer Leserinnen und Leser. In den letzten zwölf Jahren hat die Gesamtauflage der Schweizer Zeitungen um fast die Hälfte abgenommen.
Ebenfalls seit zwölf Jahren arbeitet Sibylle Andrianello als Verträgerin. Sie bekommt die Veränderungen mit: Die Abstände von Briefkasten zu Briefkasten sind grösser geworden, das Vertragungsgebiet hat sich ausgeweitet.
Andrianellos Arbeitgeber ist die Presto AG, die grösste der Frühzustellfirmen in der Schweiz. Ihr Betriebsleiter Roger Spycher erklärt, wie die Branche auf den Auflagenschwund reagiert: «Wir sind ständig daran, die Touren zu optimieren.» Konkret heisst das: Presto verlängert einzelne Touren oder legt sie zusammen. Dafür werden Verträger etwa mit Elektromobilen ausgerüstet, damit sie die längeren Strecken bewältigen können.
Presto ist eine Tochterfirma der Post. Für sie würde sich mit dem Medienpaket auf den ersten Blick wenig ändern: Ein Teil der Zustellgebühr würde einfach vom Bund übernommen statt von den Verlagen. «Ich weiss aber von einigen Titeln, dass sie sich eine Ausweitung ihrer Frühzustellung auf neue Gebiete überlegen», sagt Spycher. Die Zeitung auf dem Weg zur Arbeit schon dabeihaben zu können, ist für viele ein entscheidendes Argument für den Abschluss eines Abos.
Die Kunden wollen ihre Zeitung gedruckt
Von ihren Kundinnen und Kunden weiss Sibylle Andrianello: Sie hängen an der gedruckten Zeitung, sehr sogar. «Ich höre das immer wieder: Auf dem Computer oder dem Handy sei Zeitunglesen einfach nicht dasselbe.»
Um ihr Exemplar schon frühmorgens in den Händen halten zu können, werden Empfänger auch erfinderisch. Einer hat sich dafür einen zweiten Briefkasten aufs Fensterbrett montiert. Der Kasten lässt sich auch von hinten öffnen, von der warmen Küche aus. «So muss er nicht im Pyjama vor die Haustür gehen», sagt Andrianello.
Jetzt ist es Zeit, dass der Reporter selbst Hand anlegt. Er macht prompt einen Anfängerfehler: Er legt die Zeitungen nicht mit der Titelseite nach oben in die Kästen. Details zählen.
Die Leserinnen und Leser wissen es zu schätzen. Und sie melden sich bei der Zeitungsfee, bevor sie in die Ferien fahren und keine Zeitung brauchen. Regelmässig findet Andrianello solche Mitteilungen in den Briefkästen. Vor Weihnachten sind es auch kleine Aufmerksamkeiten: Schokolade, selbst gemachte Guetsli, manchmal «ein Nötli».
Letztlich ist Zeitungsverträgerin aber ein einsamer Job. So früh am Morgen sind sonst höchstens verspätete Nachtvögel unterwegs. «Das ist ein Vorteil: So kommt mir der Berufsverkehr nicht in die Quere», sagt Andrianello. «Ganz am Anfang war ich später unterwegs, das war Stress.»
Noch vor fünf Uhr liegt das letzte Tagi-Exemplar im Kasten. «Jetzt habe ich zu Hause eine Stunde für mich, bevor ich die Kinder wecke», sagt Andrianello. Ihre Buben sind 16, 12 und 7 Jahre alt.
Familienkompatible Arbeitszeit
Für die ausgebildete Kleinkinderbetreuerin war die frühe Arbeitszeit das beste Argument für den Job bei der Presto AG. Nach ihrer Babypause wollte sie wieder arbeiten, aber familienkompatibel: «Ich schätze es sehr, dass ich den Tag durch für meine Kinder da sein kann.»
Das hat allerdings auch einen Preis: Schon um sieben Uhr abends legt sie sich schlafen. «Dann übernimmt mein Mann.» Es gibt zwar Ausnahmen, ein-, zweimal die Woche, wenn ein Elternabend ansteht oder wenn die Eltern gemeinsam etwas unternehmen. «Das Privatleben wird durch die Arbeitszeit denn doch sehr beeinflusst», sagt Andrianello. Der Lohn allein mache das nicht wett. «Aber ich stehe gern früh auf. Sogar in den Ferien erwache ich um fünf Uhr.» Darum geht für Andrianello die Rechnung auf.
Der Stundenlohn für Frühverträgerinnen und Frühverträger beträgt laut dem Gesamtarbeitsvertrag mindestens 22 Franken. Dazu kommen Entschädigungen für das Benützen des eigenen Fahrzeugs. Laut Roger Spycher von Presto kommen die Verträger auf einen Monatslohn von 800 bis 900 Franken. «Für viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das ein wichtiger Zusatzverdienst.» Für Presto arbeitet auch eine grosse Zahl Pensionierter und Hausfrauen: «Sie gehören zu unseren zuverlässigsten Verträgern», sagt Spycher.
Sibylle Andrianello lädt die Fotografin und den Reporter im Morgengrauen beim Volg in Ottenbach ab. Ein Blick auf ihre Fitnessuhr zeigt: Die Zeitungsfee hat nicht nur ihre Arbeit erledigt, sondern auch schon 90 Prozent ihres täglichen Ziels für sportliche Betätigung erfüllt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.