Regierungserklärung von François BayrouDie Rede seines Lebens: Frankreichs Premier kämpft gegen seinen Sturz
Frankreichs neuer Regierungschef setzt die Rentenreform aufs Spiel, um die Sozialisten für sich zu gewinnen. Ein zu hoher Preis?
Das viel erwartete Wort fiel nicht, nicht ein einziges Mal in eineinhalb Stunden. François Bayrou, seit einem Monat Frankreichs neuer Premierminister einer Regierung aus Zentristen und gemässigten Rechten ohne feste Mehrheit im Parlament, umschiffte in seiner Regierungserklärung in der Nationalversammlung mit Geschick die Vokabel «suspension», französisch für: Suspendierung, Aussetzung. Obschon es in den vergangenen Tagen geheissen hatte, dass sein politisches Überleben von diesem Wort abhängen würde. Oder hat er es am Ende vielleicht doch gesagt, ohne es offen auszusprechen?
Bayrou braucht dringend die Gunst eines Teils der Opposition, will er nicht wie sein Vorgänger Michel Barnier nach kurzer Zeit wieder stürzen. Im Gegensatz zu Barnier, der auf die extreme Rechte von Marine Le Pen gesetzt hatte, sucht Bayrou einen Draht zur moderaten Linken: zu den Sozialisten vorab, aber auch zu den Grünen und den Kommunisten – also zur gesamten französischen Linken ausser der radikalen La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon, die mit den den drei anderen Parteien den Nouveau Front Populaire bilden. Er braucht sie, um sich an der Macht zu halten.
«Ich bin halt ein Neuling»
Und so forderten ihn die Sozialisten auf, die unbeliebte Rentenreform von 2023, die Paradereform von Präsident Emmanuel Macron, zu suspendieren und neu zu verhandeln – im anderen Fall würden sie beim nächsten Misstrauensantrag, der schon am Donnerstag zur Abstimmung gelangen wird, gegen ihn stimmen.
Bayrou, 73 Jahre alt, aus Pau im Südwesten Frankreichs, hielt also nicht nur die Rede seines Lebens, ersehnt seit vierzig Jahren, die er, wie seine Entourage erzählte, ganz allein geschrieben hat. Sondern bereits auch eine Rede um sein politisches Überlebens. Nach zehn Minuten gerieten die Blätter durcheinander, von denen er ablas, Bayrou musste unterbrechen: «Ich bin halt ein Neuling, sagte er und lächelte, «ich muss noch lernen.»
Doch dann kam er schnell zum Punkt. Er nannte die Rentenfrage die «grösste Dringlichkeit», und politisch ist sie das tatsächlich, zumal für ihn und die unmittelbare Standhaftigkeit seiner Regierung.
Moralische und unmoralische Schulden
Er werde, sagte Bayrou, die Debatte über die Rentenreform, mit der in Frankreich das Mindestalter für eine Vollrente sukzessive von 62 auf 64 Jahre angehoben wird, neu lancieren und den Dialog mit den Sozialpartnern suchen. Am kommenden Freitag soll schon die erste Sitzung stattfinden, ergebnisoffen. «Ich habe keine Tabus, auch nicht zum Rentenalter», sagte er.
Doch zunächst soll der Rechnungshof, so etwas wie der Wirtschaftsprüfer des Staates, die finanzielle Lage des Rentensystems erörtern und in aller Transparenz darlegen, damit man wisse, wovon man ausgeht. Bayrou rechnete den Abgeordneten schon einmal vor, dass Frankreich jedes Jahr 40 bis 45 Milliarden Euro allein dafür aufnehmen müsse, um die Löcher des französischen Rentensystems zu füllen.
Sollten die Sozialpartner eine finanzierbare Lösung finden und sich einigen, dann werde er sie dem Parlament unterbreitet. Im anderen Fall werde man am Fahrplan der Reform festhalten.
Bayrou schloss also aus, die Reform offiziell zu pausieren, das hätten etliche Mitglieder seiner Regierungskoalition nicht akzeptiert. De facto aber ist die Reform jetzt wieder eine Baustelle, in der Schwebe, und das reicht den Sozialdemokraten wohl aus, um Bayrou nicht sofort zu stürzen. Sie rechnen sich aus, dass viele Franzosen in dieser Geste ein Opfer erkennen: für das Wohl des Landes, für etwas politische Stabilität. Der Parti Socialiste nimmt dafür in Kauf, dass die Linkskoalition Nouveau Front Populaire nach weniger als einem Jahr schon wieder zerbricht.
Die Revision der Rentenreform ist ein hoher Preis – ein zu hoher? Frankreichs Staatsfinanzen sind in einem dramatischen Zustand: Nie zuvor war Frankreich höher verschuldet als jetzt; das Defizit belief sich im vergangenen Jahr auf 6,1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Es zahlt mittlerweile mehr Schuldzinsen als Griechenland. Bayrou sprach von einem «Damoklesschwert», das über dem Land hänge.
Und bereits steht die Budgetdebatte an
Doch gerade unter den Politikern ist das Verständnis für die Lage recht ärmlich. Bayrou sagte, nicht alle Schulden seien unmoralisch: Wenn man sich verschulde, um eine Universität oder ein Spital zu bauen, dann sei das in Ordnung. Nicht in Ordnung sei es aber, dass man die laufenden Kosten mit Schulden decke, die dann auf der nächsten Generation lasten würden. Alle Parteien, die in den vergangenen vierzig Jahren das Land regiert hätten, trügen eine Verantwortung für die missliche Situation.
Der Premier bereitete damit die Bühne für seinen nächsten grossen Kampf vor, und wieder wird es ein Überlebenskampf sein: In den kommenden Wochen muss er ein Budget für das laufende Jahr zusammenstellen, das wiederum dem ganzen politischen Spektrum gefallen muss.
Bayrou versprach, das Defizit per Ende 2025 auf 5,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu drücken. Barnier war über 5 Prozent gestürzt. Die Linke fordert nun schon höhere Steuern für die Reichsten, die Republikaner verwehren sich insgesamt gegen neue Steuern. Bayrou bleibt also auf der Kippe, bis auf weiteres.
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