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Schweizer Ausnahmeautorin
Eisblumen, gehaucht: Fleur Jaeggy lockt uns in Abgründe

Fleur Jaeggy
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In Kürze:
  • Fleur Jaeggy wird als mysteriöse und rätselhafte Autorin beschrieben.
  • Jetzt hat sie den Gottfried-Keller-Preis erhalten.
  • Jaeggy gilt als grosse Unbekannte der Schweizer Literatur.
  • Ihr Werk erkundet die Themen Heimatlosigkeit und innere Zerrissenheit.
  • Ihre Literatur kombiniert präzise Psychologie mit einer stillen, eindringlichen Sprache.

Laut und marktschreierisch wird Fleur Jaeggy vom Suhrkamp-Verlag angepriesen als «Ex-Modell» und «Mystikerin» sowie als «enge Vertraute von Ingeborg Bachmann» und «Witwe des Adelphi-Verlegers Roberto Calasso». Als ob ihr Werk nicht für sich sprechen würde, in seiner stillen Rätselhaftigkeit, fernab vom Markt der Eitelkeit. Um es zu lesen, muss man diese lauten Töne auf allen Kanälen sogleich wieder ausblenden und die 1940 in Zürich geborene Fleur Jaeggy für sich selbst entdecken.

Wie ein Kind, das durch das Fenster auf die Welt hinausblickt, durch das Muster von Eisblumen schaut, hinter denen die Welt und die Gefühle der Menschen nur erahnbar sind, so stellt man sich die Erzählerin in den Romanen von Fleur Jaeggy vor. Und auch sie selbst, die Autorin: wie sie dort sitzt, Kind noch, auch mit über achtzig Jahren, und aus den Fenstern ihrer Augen hinausblickt durch die Eisblumen und mit dem Stift deren Muster nachfährt und hinter ihre Oberfläche kratzt.

Die Zunge eines zum Schweigen gezwungenen Inneren

Bis vor kurzem gehörte Fleur Jaeggy zu den grossen Vergessenen der Schweizer Literatur. Ihre Bücher? Lange vergriffen. Die Autorin? Ein Mythos. Dabei wurde sie von den grössten Autorinnen gefeiert, von Ingeborg Bachmann bis Susan Sontag. Es war, als würde sie sich weit weg von der Schweiz im Reich der Weltliteratur bewegen, unerkannt nur in der Heimat, wo sie 1940 in Zürich geboren wurde. Und über diese Weltautoren schrieb sie Porträts und kurze Erzählungen, in denen sie «mit einem Gefühl von Gegenseitigkeit» die Heimatlosigkeit erkundet, so etwa mit dem Nobelpreisträger Joseph Brodsky, mit dem sie in der Kälte von New York das fehlende Spiegelbild der beiden Türme im Fluss betrachtet, während er mit einem Satz an Petersburg erinnert: «Wenn der grosse Fluss sich weiss und gefroren ausstreckt wie die Zunge eines zum Schweigen gezwungenen Kontinents.» 

Ein geheimnisvolles Wesen, das in sich ruht: Fleur Jaeggy als junge Frau. Privatarchiv

Ein solcher Kontinent ist das Werk von Fleur Jeaggy: die Zunge eines zum Schweigen gezwungenen Inneren, das dieses Schweigen mit der Stille der Schrift bricht. Wie aber will man darüber berichten? Über die innere Erfahrung beim Lesen dieser Bücher? Gehemmt von der Scheu, man könnte ein Geheimnis verletzen?

Auf brüchigem Eis

Einmal stand ich als Kind mitten in diesem Gefühl, das mich beim Lesen ihrer Bücher umfängt: Es war vor St. Petersburg, mein Vater hatte mich auf das Eis vorgeschickt, hinaus auf den Finnischen Meerbusen, um zu sehen, ob das Eis uns trägt. Und da stand ich, unweit vom Ufer, vor mir das gleissende Weiss. Doch unter den Füssen zeigten sich Risse, feine Muster über schwarzem Grund.

Das ist, so denke ich, der Ort, von dem aus Fleur Jaeggy schreibt: auf brüchigem Eis. Sie könnte ans Ufer des Vertrauten zurück. Oder sie könnte immer weiter hinaus, dorthin, wo das Eis dicker wird und die Manierismen des eigenen Schreibens sicheren Halt geben wie beim späten Thomas Bernhard. Doch sie harrt am Rand aus und blickt durch die Brüche des Eises, durch die Bruchlinien der Sätze in Abgründe, in die sie uns unvermutet lockt:

«Als sie noch klein war, musste sie sich von ihrem Vater trennen. Kinder hören auf, sich für ihre Eltern zu interessieren, wenn sie verlassen werden. Sie sind nicht sentimental. Sie sind leidenschaftlich und kalt. In gewisser Weise lassen manche ihre Empfindungen, ihre Gefühle fallen, als wären es Gegenstände. Mit Entschlossenheit, ohne Trauer. Sie werden Fremde. Manchmal Feinde.»

Vier Stunden Lektüre, lebenslange Erinnerungen

Das Mädcheninternat im Appenzellerland aus ihrem berühmtesten Roman «Die seligen Jahre der Züchtigung» ist ein solcher eisiger Spiegel, die Oberfläche von verhaltener Sinnlichkeit zersplittert. Schneidend scharf: Der junge Meister der Gothic Novel, Nathan Gelgud, zeichnete in seiner Hommage an Jaeggys modernen Klassiker das weisse Buch vor schwarzem Hintergrund, zwischen den Seiten ein Messer und der Schriftzug: «It was like discovering a murder weapon». Mörderisch ist das Buch in seiner präzisen Psychologie – und unvergesslich: «Die Lektüre dauert vier Stunden, die Erinnerung daran das ganze Leben.» (Joseph Brodsky)

Nathan Gelgud: «The Dark Magic of Fleur Jaeggy», Spiralbound 2019.

Eindringlich umkreist Fleur Jaeggy die erotisch aufgeladenen Beziehungen der jungen Frauen zwischen Aggression und Zärtlichkeit. Im Institut werden Mädchen diszipliniert, «bis die Disziplin selbst eine Lust wird». Doch die sexuellen Verwirrungen der Zöglinge werden nicht wie bei Robert Musils Törless breit ausgepinselt, sondern nur kurz angetippt: «Eines Tages fand ich in meinem Fach einen Liebesbrief; er war von einem zehnjährigen Mädchen, das mich bat, mein Schützling werden zu dürfen. (…) Ich sah mir die Kleine zu spät an, erst nachdem ich sie gekränkt hatte. Sie war wirklich hübsch, anziehend, ich hatte eine Sklavin verloren, ohne etwas von ihr gehabt zu haben.»

Denn da hat sich die Erzählerin schon verliebt, in Frédérique, eine distanzierte Ästhetin, deren hochmütiger Nihilismus sie anzieht. Sie freunden sich an, wandern durch die Landschaft, wo sogar die Appenzeller Geranien auf den Fensterbänken von einem «tropischen Gären» erfasst werden, doch legen sie sich die Hände nur auf die Schultern. Die Intimität der Verschmelzung erleben sie allein in der Schrift: 

«Als ich ihre Handschrift sah, war ich sprachlos. Fast alle unsere Handschriften waren einander ähnlich, unbestimmt, kindlich, mit rundem, breitem o. Ihre Schrift war vollständig konstruiert. Natürlich tat ich, als wäre ich keineswegs erstaunt, ich sah kaum hin. Aber insgeheim übte ich. Und noch heute schreibe ich wie Frédérique.» Als der Abschied naht und sie Frédérique zum Zug begleitet, um ihr zum ersten Mal die Liebe zu gestehen, gibt sie ihr einen Brief mit, auf dem das Wort adieu steht. Doch wer hat es eigentlich geschrieben? Die eigene Hand oder vielleicht doch die Handschrift der anderen?

Verschwisterung im Schriftbild

Durchpulst von unbewussten sadomasochistischen Trieben wird das Internat bei Fleur Jaeggy zu einem Schwellenort im Übergang von der Kindheit ins erwachsene Ich sowie von der stillen Anbetung der Geliebten in die sinnliche Praxis des eigenen Schreibens – dabei wird das Ich zu einem Anderen. Das Kind zur Autorin. Im Schriftbild verschwistert, hält sie die Entschwundene fest – verschwistert wie Leben und Literatur in Fleur Jaeggys gesamtem Werk.

Damit ging sie der heutigen Mode der autofiktionalen Romane lange voraus, wobei sie die Texte nie wirklich als autobiografisch absegnet. Sie lässt uns Leserinnen und Leser stets im Ungewissen. Damit wir darin nicht ihr, sondern unser eigenes Leben lesen.

In «Proleterka» gibt, zumindest in der italienischen Ausgabe, das Titelbild einen Wink: Man sieht darauf die Autorin als Trachtenmädchen am Sechseläuten-Umzug. Aus dieser Tracht musste sie ausbrechen, aus Zürich nach Mailand, ins Offene. 

Schöne Erinnerungen ans Sechseläuten: Fleur Jaeggy (Mitte) mit ihrem Vater, Titelbild von «Proleterka».

Wie Fritz Zorn in «Mars», aber ohne jede direkte Anklage, wird das goldene Gestänge des Geldes gezeigt, hinter denen die Kinder reicher Familien entmündigt werden, keine eigene Sprache finden, manipuliert von Müttern, die meist in Brasilien und Argentinien aus der Ferne die Fäden ziehen, die verarmten Väter verstossen und die Töchter zu Puppen mit toten Augen erziehen lassen. 

Vom Böögg zum Orakel von Delphi: So weitet die Autorin die ambivalente Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater vor dem Hintergrund der Zürcher Zünfte bei einer Kreuzfahrt in den Mittelmeerraum mit seinen Mythen. Im Bannkreis der griechischen Inseln wird das gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen dem Zürcher Sechseläuten und dem kommunistischen Namen des Kreuzfahrtschiffs Proleterka vom Sog einer Tragik überwölbt, die ebenso antik wie aktuell ist: Das Verdrängte in der Vater-Tochter-Beziehung wird gerade in der Sprachlosigkeit bürgerlicher Verschwiegenheit eindringlich fühlbar. Eine Leere der Liebe, um die die Worte kalt und klar kreisen. 

Dabei ist es kein Zufall, dass das Wort «Narbe» in italienischen Text auf Deutsch erscheint und die kindliche Verletzung benennt. Denn immer wieder durchziehen Lehn- und Leihworte aus dem Französischen und Deutschen Jaeggys italienische Texte und vernetzen sie mit den unterschiedlichen Sprachtraditionen der Weltliteratur.

Dabei gelingt es ihr, gerade auch den zeitgenössischen Geist und die aktuelle Sensibilität zu treffen: «I never think of masculine or feminine», gab sie 2021 in einem Interview mit «The New Yorker» zu bedenken: «Why not neutral?» Und so knüpfen junge Autorinnen wie Sheila Heti mit ihrer Faszination an die prophetische Einschätzung von Ingeborg Bachmann an, die der Autorin eine «diabolische Intelligenz» zusprach. 

Gerade auch in den kurzen Texten «Ich bin der Bruder von XX» verdichten sich im Erzählraum zwischen Autobiografie und Fiktion immer wieder existenzielle Nöte und Sehnsüchte auf dem Hintergrund einer puritanischen Herkunft. Die familiären Beziehungen von Bruder, Schwester, Eltern, Kind werden wie beim Blick durch ein Kaleidoskop in allen erdenklichen Spielarten ausgelotet, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Ödipus und Antigone.

Ekstasen des Wahns in kristalliner Klarheit

Die erotischen Konflikte müssen dabei nie ins Helle gezerrt werden, denn man erahnt sie an der sinnlichen Aufladung der Wörter. Die existenzielle Zerrissenheit, die Ambivalenz der Liebe und die Ekstasen des Wahns werden in die kristalline Klarheit einer Sprache gefasst, deren tiefe Klangfülle dem mystischen Schweigen entsteigt und mit einem untrüglichen Gefühl für Rhythmus verschmilzt. Damit lässt uns Fleur Jaeggy allein.

Milano, Italia: la scrittrice Fleur JAEGGY. (KEYSTONE/MAGNUM PHOTOS/Ferdinando Scianna)

Fleur Jaeggy wohnt der Verleihung des Gottfried-Keller-Preises nicht bei, sondern ist wahrscheinlich in ihrer Wohnung in Mailand. So wie sie sich nicht zeigt, zeigt sie die Wohnung niemandem. Ausser engen Vertrauten wie der früheren Journalistin Barbara Villiger Heilig, die den Preis an ihrer statt entgegennimmt und uns in einer Reportage einmal kleine Einblicke in die Mailänder Wohnung gibt: von der Schreibmaschine Hermes Ambassador mit ihrer mystischen Mechanik («Sie ist es, die meine Bücher schreibt, nicht ich!») bis zur Visitenkarte ihres Vaters: PAUL C. JAEGGY, Anwalt an der Bahnhofstrasse, dahinter erotisch aufgeladene Zeichnungen übermächtiger Frauenfiguren von Pierre Klossowski.

So bleibt Fleur Jaeggy abwesend wie die Väter in ihren Büchern. Abwesend wie die übermächtigen Mütter. Gern hätten wir sie hier bei uns im Saal der Safran, der Zunft ihres Vaters, gesehen. So aber sehen wir sie nur durch ihr Werk hindurch, können sie nur ahnend sehen – durch Eisblumen.

Stefan Zweifel ist Übersetzer und Publizist. Er lebt mit seiner Tochter Fleur und seinem Sohn in Zürich.