Schweizer LiteraturFleur Jaeggy ist eine Virtuosin des Entsetzlichen
In ihren Geschichten wird eine Frau gebraten, eine andere spricht mit einem Fisch über den Tod. Mit 83 Jahren ist Jaeggy so etwas wie die Newcomerin des Jahres.
Wie der Teufelsgeiger und Inbegriff des Virtuosen, Niccolò Paganini, der vorzugsweise auf seiner Kanonenvioline spielte, hat auch Fleur Jaeggy ein Lieblingsinstrument. Auf ihrer Schreibmaschine des Typs Hermes Ambassador hat die heute 83-jährige Schweizerin ein Werk erschaffen, das so ganz sich gerade erst entfaltet. «Danken wir den Göttern und dem Teufel für Fleur Jaeggy», schrieb die englische Schriftstellerin Claire-Louise Bennett.
Susan Sontag war von ihrer lakonischen Erzählweise begeistert, Joseph Brodsky ebenfalls. Obwohl sie schon lange nicht mehr schreibt, wurde Jaeggy in diesem Jahr mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Mit Ingeborg Bachmann verband Fleur Jaeggy eine langjährige Freundschaft, Roberto Calasso war ihr Ehemann.
«Ich hoffe, die Leute lesen Calasso»
Geboren wurde Jaeggy 1940 in Zürich als Tochter eines Schweizer Anwalts und seiner italienischen Frau. Kindheit und Jugend verbrachte sie zum grossen Teil in einem Heim, aus dem sie schliesslich floh, um in Italien eine Karriere als Model und Schriftstellerin zu verfolgen. Die literarische Verarbeitung dieser puritanischen Kindheit, «Die seligen Jahre der Züchtigung», gewann den italienischen Bagutta-Literaturpreis.
Bis heute kann Fleur Jaeggy auf Deutsch allerdings noch nicht vollständig entdeckt werden, weil sie auf Italienisch schreibt und es an Übersetzungen fehlt. Und die wenigen vorhandenen Übersetzungen waren jahrelang vergriffen. Sie selbst scheint das wenig zu kümmern. Als sie einmal in einem Interview erzählte, ihr Ehemann, der inzwischen verstorbene Roberto Calasso, sei ein bekannter Schriftsteller gewesen, entgegnete der Journalist, dass auch sie sehr bekannt sei. Ihre Antwort: «Ist das so? Verblüffend. Aber ich hoffe, die Leute lesen Calasso.»
Eine Mutter hasst ihr Kind seit der Geburt
Fleur Jaeggy lebt allein und weitgehend zurückgezogen in Mailand, umgeben von Büchern, Interviewanfragen ignoriert sie konsequent. Die Schweizer Autorin, die zwischen drei Sprachen – Italienisch, Französisch und Deutsch – aufgewachsen ist, bezeichnet sich selbst als Heimatlose. Ihre Figuren leben ähnlich, in abgeschiedenen Häusern oder Internaten.
In ihrem Werk zeigt sich ein Drang, diese Heimatlosigkeit literarisch zu bewältigen. In «Ohne Schicksal», einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1994, sorgt eine Mutter, die ihr Kind hasst, seit es auf der Welt ist, dafür, dass dieses nicht von einer liebenden Familie aufgenommen wird. Die Mutter Marie-Anne hat den Namen aus der Bibel, den Charakter aber hat sie vom Teufel. Sie verspricht die Tochter einer reichen Familie, die den Tod ihres Kindes betrauert und sich ein Mädchen herbeisehnt.
Es scheint alles abgemacht, doch kurz nach der Einwilligung ändert sie ihre Meinung, «die gnädige Frau erhängte sich fünf Minuten später». Die Mutter meinte, es sei ein Scherz gewesen, und das Mädchen wächst heran. Sie sieht sich zum Schluss der Geschichte an, was hätte sein können. «Genauer gesagt, sie sieht sich an, wo ihr Schicksal vorübergegangen ist.»
Im Restaurant redet die Erzählerin mit einem Fisch
Das Schicksal bringt in Jaeggys Werk in der Regel Leid. Trotzdem ist die Erzählperspektive nie ironisch, nie zynisch. Die Geschichten bannen die grausame Absurdität des Schicksals mit absoluter Offenheit und einer grossen Sympathie für alle, die von ihr betroffen sind. Als die Icherzählerin in «Eine Begegnung in der Bronx» mit Oliver Sacks essen geht, erblickt sie einen Fisch, der ihren Blick zu erwidern scheint.
«Ich hatte sehr deutlich den Eindruck, dass er mich versteht. Ich redete mit ihm. Stumm. Mit Zuneigung. Er weiss, dass er sterben muss.» Und dann endet die Geschichte wenig später auch schon. Die Gäste des Restaurants suchen sich Fische zum Verspeisen aus, die Erzählerin verabschiedet sich und geht: «Ich bewege meine Lippen. Wie er. Und adieu.»
Eine Frau wird gebraten
Was alle Geschichten bestimmt, ist die Vergänglichkeit, auch die von Bekanntschaften. In «Agnes» geht es um die Liebe zweier Frauen, von denen sich eine auf Druck ihrer Mutter entschliesst, einen Mann zu heiraten: «Lass mich gehen, oder ich bringe dich um, sagte sie kurz vor ihrer Hochzeit zu mir. Dieses ‹lass mich gehen› kränkte mich.» Die Geschichte endet, wie so oft, mit dem Tod, dieses Mal stirbt Agnes.
Das Böse, mal verkörpert durch ungehorsame Zöglinge, mal durch zerstörerische Kinder, kommt bei Jaeggy unschuldig daher und fordert immer das Schlimmste. «Das Universum zerstören. Nichts ist von Bedeutung», heisst es einmal, und kurz darauf wird eine Frau gebraten. «Der Unterschied zu einem Tier am Spiess war gar nicht so gross.»
Nur der Tod ist gewiss. Überall können Menschen sterben oder verschwinden, sich wie lebendige Tote benehmen. Sinn sucht man auch in den seligen Jahren der Züchtigung vergebens: «Der Wind kräuselte den unheilvollen See und die Gedanken, während er die Wolken hinwegfegte, sie zerfetzte mit einem Beil, und dort oben konnte man das jüngste Gericht erahnen, das jeden von uns wegen nichts anklagte.»
Oft sind Jaeggys Geschichten als Rückblick Jahre später erzählt. Die Worte zu finden, das Geschehene zu beschreiben, braucht Zeit. Es sind Worte für das Absurde, den Tod und das Böse. Emil Cioran hätten diese Geschichten köstlich amüsiert. Die Tatsache, dass das Leben keinen Sinn hat, schrieb dieser bekanntlich, ist ein Grund, um zu leben. Übrigens der einzige.
Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Suhrkamp, 2024. 110 S., ca. 18 Fr.
Fehler gefunden?Jetzt melden.