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«Seinetwegen» von Zora del Buono
Sie fragt sich: Wer hat Vater totgefahren?

Foto: Stefan Bohrer, Zürich, 16.2.2024: 
Portrait von Zora del Buono in Zürich.
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Mit Ketchup im Gesicht spielt sie die Überlebende eines Autounfalls. Es ist die Idee des Pfarrers, der vor der Firmung einen Kurzfilm mit den Kindern drehen will. Da ist Zora del Buono 14 Jahre alt und sitzt ausgerechnet im VW Käfer des Pfarrers. Es ist dasselbe Modell, in dem ihr Vater zu Tode kam.

Er ist die Leerstelle im Leben der Tochter und ihrer alleinerziehenden Mutter. Sie, die junge Witwe (nur einmal noch war sie mit einem anderen Mann zusammen), wurde nie zum Essen eingeladen, weil durch sie die Tischordnung durcheinandergeriet. «Reiss dich zusammen!» war fortan das Credo im Frauenhaushalt, der Vater wurde weggeschwiegen.

Wer hat ihn totgefahren?, fragt Zora del Buono in ihrem neuen autofiktionalen Roman «Seinetwegen». Sie war gerade einmal 8 Monate alt, er 33 Jahre, als er am 18. August 1963 den Folgen des Autounfalls in der Ostschweiz erlag. Über die Verletzungen von Manfredi del Buono steht in einer Akte unter anderem: «rote Einweichung des Hirnstamms, der Brücke, des verlängerten Markes, der Kleinhirnhälfte. (...) 12 Rippenbrüche und Blutungen in beiden Brusthöhlen.»

Viel Zeit blieb Manfredi del Buono mit seinem Töchterchen Zora nicht. Er starb mit 33 Jahren, sie war da gerade einmal acht Monate alt.

Als Kind hat Zora del Buono die Bartstoppeln aus dem Rasierapparat in der Hand gehalten und dann versucht, sie wieder in den Apparat zurückzulegen. Es wurden immer weniger. Wortwörtlich entglitt dem Kind der Vater, bis keine Stoppeln mehr da waren.

Freunde, die nichts schönreden, aber da sind

Am Steuer des VW Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er kam mit dem Leben davon. «Warum hatte der VW keine Kopfstützen?» ist eine der Fragen, die den Götti von Zora del Buono nachts heimsuchten. Sein Leben lang quälten ihn die zerstörerischen «Was-wäre-wenn-Fragen», die so verständlich wie hoffnungslos sind.

Eine Auswahl prominenter Opfer des Strassenverkehrs wirken für die Autorin fast tröstlich: Albert Camus, James Dean, Diana Princess of Wales, Falco, Grace Kelly, Helmut Newton, Jackson Pollock oder W. G. Sebald. Es ist der Versuch zu sagen, schau, in der Welt gibt es Verwandtes. Schicksale ähnlicher Temperatur. Da helfen der Erzählerin auch die Treffen im Kaffeehaus mit Freunden, die nichts schönreden, aber da sind.

Sie nennt ihn den «Töter»

Es ist ein Stilmittel der Autorin, Listen, Statistiken, Definitionen aus dem Duden und Auszüge aus Akten dem hoch emotionalen Erzählen entgegenzusetzen, und ein durchaus ironischer Unterton blitzt an den passenden Stellen immer wieder auf. Schicksalsgeschichten interessieren ungebrochen, gehen ans Herz, bieten eine hohe Identifikationsfläche. Schicksalsgeschichten haben aber auch das Potenzial, ins Pathetische abzustürzen. Das passiert Zora del Buono zu keinem Zeitpunkt ihres Erzählens.

Lange sieht es gar nicht nach einer vielversprechenden Suche aus. Nur die Initialen des «Töters», «E. T.», kennt sie. Ein sympathischer Mensch, «eine vo de Guete» sei er gewesen, erfährt sie später. Und geständig soll er auch gewesen sein: «Ich bekenne mich schuldig, der fahrlässigen Tötung (...) sowie des Fahrens mit Pneus ohne genügend Gleitschutz.» Das Strafmass ein Hohn: zwei Monate Gefängnis bedingt und 200 Franken Busse. Die Genugtuung, die ihren Namen nicht verdient hat, waren 50’000 Franken Regress für Mutter und Tochter, bezahlt von seiner Versicherung.

Gar keine richtige Familie

Wie aber konnte der «Töter» mit seiner Schuld weiterleben oder wurde er sie vielleicht einfach los? Hat er sich ein zusätzliches «e» in den Vornamen geschoben und sich als «Ernest Traxler» nach Pennsylvania abgesetzt, wo er den Tieren zugewandt war, aber tragischerweise von einer Antilope zu Tode getrampelt wurde? Später findet Zora del Buono heraus, dass es so nicht war, eine Verwechslung. Ernst Traxler, der «Töter», starb in seiner Wohnung. Er mochte Wein und Hunde, vielleicht auch Männer. «Ein schwuler Hundefreund, das hat mir gerade noch gefehlt.»

Zora del Buono als kleines Mädchen mit einer Glace in der Hand.

An Heiligabend fährt die erwachsene Erzählerin von Berlin nach Zürich. In voller Absicht, aufgewachsen mit dem Gefühl, nur richtige Familien würden Weihnachten feiern. In Nürnberg lässt sie sich eine Pizza aus dem Automaten und erinnert sich, wie sie die Feiertage jeweils mit der Mutter, die als Röntgenassistentin im Kinderspital gearbeitet hat, dort verbrachte. Stolz trug das Kind den weissen Kittel mit grossen Taschen.

Die Verunmöglichung von Nähe

Die Erzählerin rechnet damit, dass das Unglück jederzeit über sie hereinbrechen kann, das ist kein katastrophisches Denken, aber warum soll es denn nicht wieder geschehen? In der Liste der eigenen Deformationen steht: «Irritation, wenn Menschen von tragischen Schicksalsschlägen sprechen, die eigentlich keine sind, zum Beispiel das Sterben greiser Eltern.»

Das Einlassen auf eigene Beziehungen, romantisch intimer Natur, gelingt ihr kaum: «Wenn eine Beziehung funktionierte, habe ich sie zerstört. Wenn sie nicht funktionierte, habe ich sie zu halten versucht.» Und schlussendlich ist das «solitäre Dasein» der einzige Zustand, der ihr lebbar scheint. Die Verunmöglichung von Nähe, die jederzeit durch den Tod, einen Unfall und das Verlassenwerden kaputtgehen kann, ergo: sich besser nicht zu sehr einlassen.

Mutter und Tochter, die damit leben mussten, dass sie zu spüren bekamen, «keine richtige Familie» zu sein.

Die Mutter, ihr ist das Buch gewidmet, wird als starke, gebildete und unsentimentale Frau beschrieben. Und das zu einer Zeit, die es den Frauen ohne Mann nicht leicht gemacht hat. Heute kann Zora del Buono der Mutter keine Fragen mehr stellen. Sie ist dement und traurig, weil die Tochter nie zu Besuch kommt. «Sie würde mir nicht glauben, dass ich ihre Tochter bin, und wenn ich ihr versicherte, die Tochter sei oft da, würde sie mich als Lügnerin verunglimpfen.»

Es gibt Dinge im Leben, die einem (wortwörtlich) widerfahren, die man überwinden, durchtrauern will, bis das Licht sich ändert. Aber das ist ein Irrtum. Es gilt, damit leben zu lernen. Zora del Buono musste das, seit sie ein kleines Kind war.

«Seinetwegen» ist ein eindrückliches Dokument, in glasklarer Sprache aufgeschrieben. Eine Aufarbeitung, die ohne Sentimentalitäten auskommt – ein Buch, dem man eine grosse Leserschaft wünscht (und den Schweizer Buchpreis).

Zora del Buono: Seinetwegen. C. H. Beck, 2024. 204 S., ca. 33 Fr.