Neuer Deal mit der EUJetzt geht es um alles – um unsere Identität und unser Selbstverständnis
Die Schweiz steht nach dem Verhandlungsabschluss mit der EU an einem Scheideweg. Welche Richtung sie einschlägt, muss ehrlich, emotional und befreit diskutiert werden.
Das ist nicht das Ende. Das ist erst der Anfang. Nach zehn mühseligen Jahren und mehreren Anläufen erklärt der Bundesrat die ewigen Verhandlungen mit der EU für «materiell beendet». Doch das zähe Ringen im Ausland war nur der Auftakt. Die grosse Schlacht um das Vertragswerk beginnt erst jetzt – mit der alles entscheidenden Debatte im Inland.
Dafür ist der Bundesrat nicht schlecht gewappnet. Im Vergleich zum gescheiterten Rahmenabkommen hat die Schweiz im neuen Anlauf Verbesserungen erzielt, etwa Sonderregeln beim Lohnschutz oder Ausnahmen bei der Zuwanderung. Auch die sogenannte Super-Guillotine-Klausel, die beim Scheitern eines Teilbereichs das ganze Vertragswerk gefährdet hätte, wurde abgewendet.
Die Schweiz hat zudem erfolgreich drei neue Abkommen in den Bereichen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit ausgehandelt. Der Bundesrat gedenkt nun, diese drei Vorlagen getrennt von den bestehenden bilateralen Abkommen ins Parlament zu bringen – auch das eine sinnvolle Lösung, um das Klumpenrisiko zu verringern. Entsprechend sind von den meisten Parteien vorsichtig-optimistische Voten zu hören. Das positive Ergebnis zeigt: Es war richtig, vor drei Jahren die Verhandlungen abzubrechen. Die Schweiz konnte der EU substanzielle Zugeständnisse abringen.
Alles bestens also? Nein. Denn für die richtig heissen Eisen hat der Bundesrat noch keine Lösungen präsentiert. So weiss er erstens noch nicht, wann und wie genau die Schutzklausel gegen eine zu hohe Zuwanderung zur Anwendung kommen soll. Zweitens ist noch unklar, mit welchen Massnahmen die EU-Spesenregelung im Inland abgefedert werden soll. Und drittens hat er noch nicht entschieden, ob die vier Abstimmungsvorlagen dem Ständemehr unterstellt werden sollen oder nicht. Ob sie mehrheitsfähig sind, ist daher zum heutigen Zeitpunkt unklar.
Im Vorteil sind aktuell die Gegner. Sie dominieren die öffentliche Debatte mit ihrer wuchtig vorgetragenen Kritik am «Kolonialvertrag». Dass der Bundesrat und die Befürworter in der Defensive sind, ist selbst verschuldet. Aussenminister Ignazio Cassis, der oberste Botschafter dieses Vertragswerks, ist während der Verhandlungen abgetaucht. Dagegen preschte Justizminister Beat Jans mit einem klaren Votum vor – und wurde prompt vom Kollegium zurückgepfiffen.
Grundsatzfragen müssen schonungslos auf den Tisch
Auch die befürwortenden Parteien und Verbände haben lange geschwiegen und verlieren sich jetzt in den ewig gleichen Floskeln von den «stabilen Beziehungen zur EU». Dabei geht es bei diesen Abkommen doch um viel mehr. Es geht um grundsätzliche Fragen, um die Identität der Schweiz, um unser Selbstverständnis.
Wenn sich die Schweiz nicht zehn weitere Jahre im Kreis drehen will, müssen diese Grundsatzfragen schonungslos auf den Tisch. Drei Voraussetzungen braucht es für diese politische Aushandlung:
Ehrlichkeit. Die Zuwanderung beschäftigt die Menschen in der Schweiz. Analysten orten im Nein zum Autobahnausbau einen diffusen «Wachstumsschmerz». Die Wohnungssituation in den Städten verschärft sich markant. Und in Zürich dehnt sich die Klangwolke des Expat-Englisch immer mehr aus. Diesem Unbehagen ist mit dem Argument, die Wirtschaft brauche halt Arbeitskräfte, nicht mehr beizukommen. Hier ist Ehrlichkeit der erste Schritt zur Lösung. Economiesuisse hat das erkannt – Präsident Christoph Mäder sagt, die Gesellschaft könne die hohe Zuwanderung nicht mehr absorbieren. Aber eine Antwort auf die Problematik hat die Politik bislang nicht. Der Bundesrat muss dieses Unbehagen bei der Konkretisierung der Schutzklausel ernst nehmen. Es braucht eine griffige Formulierung, die auch den Druck auf einzelne Regionen und Branchen berücksichtigt. Ehrlichkeit braucht es aber auch bei der Benennung von Alternativen zum neuen Vertragswerk: Weiter wie bisher ist keine Option. Das akzeptiert die EU nicht – und das kann angesichts der erodierenden Bilateralen auch nicht im Sinne der Schweiz sein. Andere Varianten wie ein Freihandelsabkommen oder ein EWR-Beitritt brächten der Schweiz jeweils unterschiedlich gelagerte Nachteile.
Emotionen. Die Diskussionen um unser Verhältnis zur EU sind furchtbar technisch. Dabei werden diese vier Abstimmungen nicht in den Köpfen, sondern in den Herzen entschieden. Sind wir nur geografisch im Zentrum Europas? Oder auch ideell? Und bedeutet ideell auch institutionell? Solche Fragen müssten im Fokus stehen. Genauso wie jene zu unserer Souveränität: Wie viel Freiheit geben wir mit der dynamischen Rechtsübernahme bei den Marktzugangsabkommen auf? Wiegt der wirtschaftliche Erfolg mehr als das Gefühl der Unabhängigkeit? Die Befürworter wischen bis jetzt auch diese Zweifel mit technischen Argumenten beiseite, dabei könnte eine solche Auseinandersetzung identitätsstiftend sein.
Befreiung. Die Europa-Debatte ist seit Jahren in der festen Umklammerung von SVP und Gewerkschaften. Das wird so bleiben, wenn die Gesellschaft nicht ganzheitlicher daran teilnimmt. Sämtliche Parteien sind gefordert, mit ihrer Basis offen über die kritischen Punkte zu sprechen. Die (dafür belächelte) FDP macht es richtig: Sie will an einem Parteitag basisdemokratisch zu einer Position finden. Einzubeziehen sind namentlich auch die Frauen: Die Debatte ist bislang von Männern und ihren Standpunkten geprägt; sinnbildlich dafür war die reine Männerrunde im SRF-«Club» zum Thema. Dabei haben die Abstimmungen der letzten Jahre gezeigt, dass Frauen Resultate entscheidend beeinflussen können – und häufig andere Positionen als Männer haben.
Das Pathos von Ursula von der Leyen und Viola Amherd war insofern schon angemessen: Die Schweiz steht an einem Scheideweg. Welche Richtung sie einschlagen will, sollte sie so ehrlich, emotional und befreit wie möglich diskutieren.
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