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Mögliche Wende im Süden der Ukraine
«Erstmals kann Kiew den Kriegsverlauf bestimmen»

Ukrainische Soldaten auf einem Panzerfahrzeug: Im Osten der Ukraine bewegt sich nicht mehr viel, die Verteidiger konzentrieren ihre Gegenoffensive derzeit auf den Süden und die Region Cherson.
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Im Süden der Ukraine geht der Vormarsch der ukrainischen Armee nach deren Angaben weiter voran. 53 Dörfer in der Region Cherson sollen mittlerweile bereits befreit worden sein, meldet Kiew. Und es gibt weitere Erfolge, so gab es womöglich entscheidende Schläge gegen die russischen Versorgungslinien. Dies auch mithilfe der neuen Artilleriesysteme, welche der Westen der Ukraine geschickt hat.

So wurden zwei wichtige Autobrücken getroffen, die dem Transport von Truppen und Material dienten. Sie können nun nicht mehr für schweres Gerät benutzt werden. Die russische Armee hat dafür zwar Pontonfähren eingerichtet und kann so weiter von Ufer zu Ufer übersetzen, aber sicher langsamer als zuvor.

Die Ukraine machen Autobrücken mit gezielten Schlägen für schweres Gerät unbrauchbar. Autos können aber weiterhin passieren, eine spätere Instandsetzung ist möglich.

Zudem trafen die Ukrainer einen Versorgungszug und beschädigten dabei eine Eisenbahnbrücke. Rund 80 russische Soldaten sollen beim Angriff gestorben sein, viel Material wurde zerstört und die wichtigste Nachschublinie unterbunden. Die Transporte per Eisenbahn sind für die russische Armee entscheidend, um Kriegsmaterial an die Front zu bringen.

Russland wird die Verbindung wieder reparieren und in Betrieb nehmen können, so viel steht zwar fest. Die Invasoren verlieren durch den ukrainischen Schlag aber Zeit, womöglich entscheidende. Ob der Ukraine wirklich die Rückeroberung von Cherson gelingt, oder ob der Westen die russischen Möglichkeiten unterschätzt, ist derzeit auch bei Militärexperten umstritten.

«Der Süden ist der Schlüssel», sagt beispielsweise Peter Zwack, ein ehemaliger US-Armeegeneral, der einst auch als Militärattaché in der US-Botschaft in Moskau arbeitete. Für die Ukraine sei die Rückeroberung existenziell. Sie müsse die Russen jetzt aus dem Süden vertreiben, sonst setzten sich diese dort fest.

Wie umfangreich die ukrainische Gegenoffensive wirklich ist, wissen auch die wichtigsten Verbündeten nicht. So erklärte ein Pentagonsprecher an einer Medienkonferenz, dass es bisher erst nach kleinen Gebietsgewinnen aussehe. Ob das eine gross angelegte Aktion sei, wisse man nicht. Aber es sehe auf jeden Fall so aus, als ob die russischen Kräfte nicht gut auf diese Gegenoffensive vorbereitet seien.

Kiew bestimmt erstmals den Kriegsverlauf

Das zeigt sich auch an der Reaktion Moskaus. Russland werde derzeit gezwungen, seine Kräfte in den Süden zu verlagern, schreibt das Institute for the Study of War (ISW) in der aktuellsten Lageeinschätzung. Dafür wurden die Offensiven in Slowjansk und Siwersk abgebrochen, um Truppen, Fahrzeuge und Jets in Richtung Saporischschja und Cherson zu verlegen. Auch die Krim wird demnach von Russland verstärkt.

Somit habe die Ukraine die Initiative im Krieg übernommen, schätzt das ISW die Lage ein. Zwar hätten die Invasoren schon aus der Region um Kiew vertrieben werden können, Moskau habe aber danach trotzdem frei entscheiden können, wo es die nächsten Angriffe setze. Das sei nun anders. Russland müsse auf die Gegenoffensive reagieren und werde in die Verteidigung gezwungen, anstatt selbst Ziele setzen zu können. Es sei das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass Kiew den Kriegsverlauf bestimme und nicht Moskau. Das sei auch dank einer «dramatischen» Schwächung der russischen Kräfte möglich geworden.

Wie es in den nächsten Wochen weitergeht, hängt gemäss ISW davon ab, wie gut der ukrainische Gegenangriff vorankommt. Dies nicht nur im Süden, sondern auch an der Ostfront, wo die Ukraine die Invasoren rund um Isjum unter Druck setzt. Wenn an mehreren Fronten angegriffen werden kann, bleibt das russische Dilemma bestehen, wo sie ihre Position verteidigen, um grosse Gebietsverluste und somit eine Wende im Krieg zu vermeiden. Ziehen sie mehr Personal in den Süden ab, wackelt die Front im Osten. Doch gleichzeitig will Moskau Cherson wohl halten, was die Kräfte dort bündelt. Russland kann dann keine eigenen grossen Attacken mehr fahren, wie das gewünscht wäre.

Russische Truppen machen Vorstösse bei Bachmut oder Isjum, die Ukrainer halten dagegen. Dies ist für den weiteren Verlauf der Gegenoffensive im Süden auch entscheidend, sagen Experten.

Gelingt das den Ukrainern, können sie Russland im Süden womöglich sogar vertreiben? Militärexperte Ralph Teile ist skeptisch, wie er dem Sender BR24 sagt. Die russische Artillerie sei zahlenmässig immer noch weit überlegen. Die Ukrainer seien zudem nicht optimal an den westlichen Systemen ausgebildet. Teile hält es auch für «leichtfertig», dass der Westen Russland langfristig zu schwächen versuche, wie er sagt. Moskau habe die meisten Atomsprengköpfe. Aus seiner Sicht war es ein Fehler, dass man vom Ziel, die Ukraine solle nicht verlieren, darauf umgeschwenkt ist, Russland zu schaden.

ETH-Experte sieht Russland in Rücklage

Ganz anders sieht das Marcus Keupp, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich. Er meint, dass Russland zwar mehr Kriegsgerät habe, damit aber nicht so viel anrichten könne wie gewünscht. Gemäss russischer Militärdoktrin wären bei einer Offensive mit Panzern, Artillerie, Infanterie und Luftunterstützung 30 Kilometer Landgewinn pro Tag vorgesehen. Würde das noch nach Lehrbuch funktionieren, stünden die Russen jetzt quasi schon in Portugal, rechnet der Militärökonom überspitzt vor. Stattdessen gelingt den Invasoren maximal ein Vorstoss von einem Kilometer. Das gebe einen guten Einblick, wie es um den Zustand und die Logistik der russischen Armee stehe, sagt Keupp. Die Kriegsführung funktioniere nur rudimentär, wie in der Sowjetunion: alles mit Artillerie zerstören und dann erst die Truppen schicken.

Im Moment führe Russland den Krieg mit seinen Reserven. Ein Drittel der Panzer sei aber bereits zerstört worden, das seien unglaubliche Verlustquoten, erklärt der Experte. Selbst in der Sowjetunion habe es so was nicht gegeben. Die Frage sei nun, woher der Nachschub kommen soll. Keupp sagt, dass Russland «sehr, sehr lange» brauchen werde, um die in der Ukraine verlorenen Kräfte wieder aufzubauen, und dies in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld mit Sanktionen, die Russland gemäss neusten Studien «katastrophal» lähmen.

Zuerst werde es aber zu einem grossen Wendepunkt im Krieg kommen, ist sich Keupp sicher. Die Ukraine werde die Russen bei Cherson komplett einschliessen, sodass die Truppen kapitulieren müssten oder vernichtet würden. «Die Frage ist nicht, ob das kommt, sondern wann oder wie schnell», sagt der ETH-Militärexperte.