Zweite Absage in ZermattWetterchaos – und die Frage stellt sich: Wer braucht dieses Skirennen?
Nach 2022 finden am Matterhorn schon wieder keine Männer-Abfahrten statt. Die an und für sich einzigartige Veranstaltung ist wie das Wetter in den letzten Tagen: kompliziert.
Noch vor Sonnenaufgang gingen in Zermatt die Lichter aus. Am frühen Sonntagmorgen wurde bekannt, was abgesehen von den kühnsten Optimisten alle erwartet hatten: Auch die zweite Männerabfahrt am Matterhorn musste wegen zu viel Wind und Schnee auf der Piste abgesagt werden. Die Premiere eines Zweiländer-Rennens im Weltcup fand nicht statt, vergebens standen 500 freiwillige Helfer, die teils aus Amerika und Asien angereist waren, im Dauereinsatz. Der Frust ist gross im Bergdorf, es heisst, ein Wetterfluch liege über der Veranstaltung.
Immer wieder Bedenken bezüglich der Fairness
Wobei das etwas zu kurz gegriffen ist. Natürlich hatten die Organisatoren letzten Herbst Pech, herrschten derart extreme Bedingungen wie jahrzehntelang nicht mehr zu dieser Zeit. Das Ziel glich damals einer Geröllwüste, die Bedingungen luden zum Wandern ein. Nun liegt zu viel Schnee, auf über 3000 Metern über Meer sind Niederschläge im November jedoch nichts Aussergewöhnliches, und erst recht nicht heftige Böen weit oberhalb der Baumgrenze. Fahrer wie Trainer haben seit der Lancierung des Projekts vor rund vier Jahren daher Bedenken geäussert bezüglich der Fairness, gerade wegen des Windes, der hoch oben in alle möglichen Richtungen pfeift und vieles ist, aber sicher nicht konstant.
«Wenn wir hier oben zwei Tage am Stück keinen Wind haben, ist das wie ein Sechser im Lotto.»
Schwierig sei es, auf dieser Höhe ein faires Rennen zu haben, sagte Marco Odermatt. Österreichs Rennsportleiter Marko Pfeifer resümierte, es sei vielleicht nicht komplett sinnlos, hier zu fahren, «aber die Chance, dass es geht, ist wohl maximal 50:50». Und der deutsche Abfahrer Josef Ferstl sagte: «Wenn wir hier oben zwei Tage am Stück keinen Wind haben, ist das wie ein Sechser im Lotto.»
Der eigenwillige Vergleich mit der Mondlandung
Die Organisatoren haben einen gewaltigen Aufwand betrieben, zumal auf der im Weltcup einzigartigen Höhe mit Start auf über 3700 und Ziel auf gut 2800 Metern sämtliche Arbeiten um ein Vielfaches komplizierter sind. Wenn es dann nicht funktioniert, stellen sich unweigerlich Fragen, etwa jene, wer denn diese Rennen überhaupt braucht.
Zermatt selbst? Nein, die Wintersportdestination ist ohnehin ein Erfolgsmodell, im Dorf sind dieser Tage nicht einmal sämtliche Hotels geöffnet. Swiss-Ski? Kaum, schliesslich sind da die Dauerbrenner Wengen und Adelboden und die Heim-WM 2027 in Crans-Montana als Leuchtturm. Die Zuschauer? Primär jene vor dem Fernseher, denn die Örtlichkeit taugt wegen eingeschränkter Bahnkapazität nicht zum Massenspektakel. Zudem braucht es neben einem Eintrittsticket (20 bis 60 Franken) eine Fahrkarte von Zermatt ins Ziel und zurück, Kostenpunkt: 145 Franken ohne Halbtax.
Die «Aargauer Zeitung» schrieb etwas über Gebühr, die Rennen in Zermatt seien die Mondlandung des alpinen Skirennsports. So wenig zwingend erforderlich wie der Transport eines Menschen auf den Mond. Aber eine ähnlich schwierige Herausforderung in einer menschenfeindlichen hochalpinen Gegend.
Eine gewisse Doppelmoral bei den Fahrern
Die Idee für die Matterhorn-Rennen hatten die Italiener, sie fanden rasch Gehör bei Johan Eliasch, dem Präsidenten des Weltskiverbandes FIS und Vertrauten von OK-Präsident Franz Julen. Dieser sagt, der Skisport brauche solche einzigartigen und innovativen Projekte. Ganz gut in den Kalender passe die Veranstaltung, meint derweil FIS-Rennchef Markus Waldner, zumal die ursprünglich Ende November geplanten Speedrennen von Lake Louise wegen finanzieller Probleme der Organisatoren schon im Juli gestrichen wurden.
Es sei ein Event für die Abfahrer, die eine spektakuläre Bühne erhielten, so tönte es mehrmals seitens der FIS. Diese wird von den Athleten gern als träge und verstaubt bezeichnet. Insofern sind die negativen Voten der vergangenen Tage zumindest im Ansatz als Doppelmoral zu deuten. Manch einer bemängelte die beschwerliche Anreise von Zermatt hinauf aufs Klein Matterhorn und wieder hinunter nach Cervinia, mit fünf verschiedenen Bahnen, die je nach Wartezeiten pro Weg 70 bis 90 Minuten dauert.
«Es ist genau das, was ich im Sommertraining auf dem Gletscher hasse», sagte Dominik Paris, während Odermatt festhielt: «Logistisch ist es mühsam und schwierig, vor allem wenn es dann viele Leute hat.» Wobei es anzumerken gilt, dass sich jeweils nicht alle Fahrer zur vorgeschriebenen Zeit an der Bahn eingefunden haben.
Rennen im Frühling? Kein Geld, kein Interesse
Die Anreise hat etwas Beschwerliches, sie steht damit sinnbildlich für die Geschichte dieses Rennens. Julen sagt, er sei offen für Anregungen und habe immer zugehört. So wurde der Start runtergesetzt, weil die Athleten wegen der Streckenlänge Sicherheitsbedenken geäussert hatten, und es wurden grössere Schneedepots angelegt, um ein Szenario wie im Vorjahr zu vermeiden. Nun habe er sich nichts vorzuwerfen, verbessert werden könne allenfalls der Athletentransport.
Die Rennen in den Frühling zu verlegen, wenn die Wetterlage für gewöhnlich etwas stabiler ist, kommt gemäss Julen nicht infrage – wenngleich die FIS mit dem entsprechenden Vorschlag an die Zermatter herangetreten war. Hotellerie und Bergbahnen hätten im März oder April kein Interesse an einer solchen Veranstaltung, zudem wäre diese nicht finanzierbar. «Die Sponsoren haben kein Interesse an Frühlingsrennen, wenn die Skisaison für die Allgemeinheit vorbei ist», sagt Julen.
«Wenn ich eine Strategie habe, ändere ich nicht einfach meine Meinung und gebe schon gar nicht auf.»
FIS-Rennchef Waldner konstatierte, es sei allen bewusst, dass es sich um ein enorm herausforderndes Projekt handle. Er wolle nun die Rennen der Frauen vom kommenden Wochenende abwarten, «danach werden wir analysieren und überlegen, ob wir auf dieser Linie weitergehen». Was er damit meinte, blieb ungeklärt. Da und dort wird bereits die Zukunft des Rennens infrage gestellt. Zermatt/Cervinia hat jedenfalls einmal seinen Platz im provisorischen Weltcup-Kalender des kommenden Winters, wohl auch deshalb, weil es keine Alternativen gibt. Julen sagt: «Wenn ich eine Strategie habe, ändere ich nicht einfach meine Meinung und gebe schon gar nicht auf.» Das Training am Mittwoch inklusive der positiven Rückmeldungen der Fahrer zur Strecke habe bewiesen, dass ein Rennen in dieser Höhe und zu diesem Zeitpunkt durchführbar sei.
Nur war es in dieser Woche halt nur an einem von fünf Tagen möglich, was jene bestärkt, welche die Gletscherrennen für eine Zwängerei halten. Nach der heftigen Kritik und den Klagen von Umweltverbänden erschienen zuletzt auch in der italienischen Presse Artikel in scharfem Ton. Nach der Absage am Samstag hiess es, die Natur habe auf ihre Weise geantwortet.
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