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Der beste Abfahrer der Welt
«Mikaela hat mir schon mehrmals in den Hintern getreten»

epa10593646 Professional skiers Mikaela Shiffrin (L) and Aleksander Aamodt Kilde (R) attend the Time 100 Gala, held annually to celebrate the release of the magazine's '100 Most Influential People in the World' issue, at Frederick P. Rose Hall at Lincoln Center, in New York, New York, USA, 26 April 2023.  EPA/JUSTIN LANE

Aleksander Kilde, sind Sie ein Kamikaze?

Früher war ich sehr temperamentvoll und wild. Als Bub fuhr ich meinem älteren Bruder hinterher, eigentlich war er viel zu schnell für mich, aber ich liess mich nicht abhängen, gab immer Vollgas. Als ich älter wurde, schied ich in den Trainings häufig aus und stürzte. Die Balance zwischen Attacke und Taktik stimmte nicht, das machte mich verwundbar. Es hat mich als Rennfahrer geprägt, ich habe daraus gelernt. Früher gab ich immer 100 Prozent, egal, wie die Bedingungen waren. Heute sind es ab und zu nur noch 99 Prozent. (lacht)

Sie haben also das richtige Mass gefunden?

Es gibt Leute, die sagen, ich hätte Glück gehabt, dass ich nicht öfter schwer stürzte und verletzt war. Aber ich bin physisch stark, habe dicke Oberschenkel. (lacht) Dank meiner Kraft kann ich mich aus heiklen Situationen retten. Ich werde älter und vernünftiger, vor allem im Training und bei schlechtem Wetter. Aber das Risiko zu sehr zu senken, ist keine Option. Sonst gewinne ich nicht mehr. Ich lote meine Grenzen aus, aber ich kenne sie. Und ich kann ein Leben ohne Risiko führen, abseits der Piste brauche ich überhaupt keinen Nervenkitzel.

Im letzten Winter schien es, als würde Ihr Duell mit Marco Odermatt zur Unvernunft verleiten …

… mir kommt da Kitzbühel in den Sinn. (überlegt) Wenn du einen Gegner hast, der dermassen schnell ist, dann hast du manchmal das Gefühl, etwas Aussergewöhnliches tun zu müssen, um ihn schlagen zu können. Beim Skifahren kann man nicht immer alles kontrollieren. Wenn einer 110 Prozent gibt auf der Strecke, kann auch mal etwas passieren. Marco und ich wissen, dass wir immer gewinnen können, sofern alles aufgeht. Wir sind uns ähnlich, sind auf der Piste beide geladen und fahren mit sehr viel Intensität.

«Bei vielem, was ich tue, frage ich mich: Was macht Odermatt? Macht er es besser?»

Ist Odermatt Fluch und Segen für Sie?

In gewisser Weise wohl schon, ja. Er nimmt mir Siege und Trophäen weg. Aber er macht mich auch besser. Bei vielem, was ich tue, frage ich mich: Was macht er? Macht er es besser? Wenn ich zum Beispiel Klimmzüge mache, denke ich an Odi! (lacht) Ich sage mir: Er macht sicher mehr als du, also hänge ich noch einen Zug oder zwei Züge an. Wegen ihm mache ich viele Extra-Dinge.

Es gibt Aussenstehende, die nicht verstehen, wie Sie sich als grosse Konkurrenten nach einem Rennen umarmen können. Ist das alles nur Show?

Definitiv nicht. Wir mögen uns, weil wir leidenschaftliche Skifahrer sind. Und das Leben ist doch zu kurz, um keine Freude zu haben, dem anderen etwas nicht zu gönnen. Wer anders lebt, hat es nicht schön. Ich kann diese Verhaltensweise auch nicht verstehen.

Odermatt verdient mit dem Skisport Millionen. Wie verhält es sich bei Ihnen?

Ein heikles Thema. Da muss ich aufpassen, was ich sage.

Werden Sie nach dem Rücktritt ausgesorgt haben?

Ich werde weiter arbeiten müssen. Ich bin zufrieden, es geht mir sehr gut, ich verdiene genug Geld. Aber es könnte natürlich mehr sein, wenn die Regeln im norwegischen Skiverband anders wären. Gewinne ich ein Rennen und Odermatt fährt auf Rang 5, wird er dank seiner persönlichen Sponsoren dennoch mehr verdienen, das ist etwas unfair. Bei mir ist das definitiv verschmerzbar. Aber für die jungen Norweger, die noch nicht ganz so erfolgreich sind, ist die Situation sehr schwierig. Wir kämpfen dafür, dass sich die Strukturen endlich ändern.

«Lucas braucht viele Freiheiten. Der Skisport mit seinen vielen Regeln passt eigentlich nicht zu ihm.»

Inwiefern?

Die Welt ändert sich laufend, aber wir haben noch immer die gleichen Strukturen wie vor etwa 50 Jahren. Es geht um den persönlichen Kopfsponsor, der uns nicht erlaubt ist, vor allem aber geht es um Bildrechte. Wir müssen uns auch abseits des Sports vermarkten dürfen. Im September war ich für Hugo Boss an der Fashion Week in Mailand, das war eigentlich verboten und ging nur dank einer Ausnahmeregelung. Wir müssen eine Lösung finden, die für den Verband und für die Athleten funktioniert, damit es beiden Seiten gut geht. Denn wer nicht zumindest zur erweiterten Spitze gehört, sondern vielleicht die Nummer 20 der Welt ist, kann sich eine Karriere in Norwegen kaum finanzieren. Und dann? Starten die Athleten ins Berufsleben und haben einen Rückstand aufzuholen. Sie werden also doppelt bestraft.

Lucas Braathen hörte auf, nicht zuletzt wegen des Streits mit dem Verband bezüglich der Vermarktungsmöglichkeiten. Können Sie ihn verstehen?

Ich verstehe, dass ihn der Kampf mit dem Verband beschäftigte, das war demotivierend und schwierig für den Kopf. Es ging viel zu viel um Politik. Lucas ist 23, ich kann nachvollziehen, dass ihn das Ganze viele Nerven gekostet hat. Und er ist ein spezieller Typ, er braucht viele Freiheiten, lebt jeden Tag sehr intensiv. Der Skisport mit seinen vielen Regeln und Einschränkungen passt eigentlich nicht zu ihm. Aber er hat es ja überragend gemacht, war die Nummer 1 im Slalom. (überlegt) Wir sind total verschiedene Persönlichkeiten; ich finde Skifahren richtig geil, einfach so aufhören könnte ich niemals.

epa10940174 Aleksander Aamodt Kilde (R) and Lucas Braathen of Norway attend a press conference in Soelden, Austria, 26 October 2023, before the opening races of the FIS Alpine Ski World Cup season in Soelden on 28 and 29 October.  EPA/ANNA SZILAGYI

Denken Sie, dass er zurückkommen wird?

Ich sprach länger mit ihm und spürte: Das ist kein Schnellschuss, sondern ein Entscheid, zu dem ihn sein Herz verleitet hat. So wie ich ihn kenne, glaube ich: Er ist fertig mit dem Skisport.

Henrik Kristoffersen hat sich im Kampf mit dem norwegischen Verband immerhin finanziellen Support für sein Privatteam erstritten. Wäre das für Sie kein gangbarer Weg?

Das ist für mich unvorstellbar. In Norwegen wird der Teamgedanke gelebt. Wir geben unser Wissen über Generationen weiter, auch ich habe davon profitiert, vor allem von Aksel (Svindal) und Kjetil (Jansrud). Henrik ist vom Typ her eher der Einzelgänger, ich hingegen bin nicht gerne allein.

Mit eigener Entourage unterwegs ist Ihre Freundin Mikaela Shiffrin. Wie muss man sich die gelegentlichen gemeinsamen Trainings vorstellen?

Wir haben immer Spass. Im Kraftraum mit den Gewichten bin ich die Nummer 1. Aber beim Skifahren hat mir Mikaela schon mehrmals in den Hintern getreten. (lacht) Im Riesenslalomtraining, wenn der Lauf eng und etwas speziell gesteckt ist, ist sie auch mal schneller als ich. So gut ist sie einfach. Oder so schlecht bin ich. (lacht)

«Mikaela hat gelernt, dass es viel schöner ist, offen zu sein, statt für sich im Hotelzimmer zu sitzen.»

Was schauen Sie sich sonst von ihr ab?

Sie ist extrem ehrgeizig und hat wahnsinnig hohe Ansprüche an sich selbst. Obwohl sie schon so viel gewonnen hat, gibt sie sich nie zufrieden, sieht immer tausend Dinge, die es noch zu verbessern gibt. Ich kann manchmal nur staunen. Sie verhält sich wie jemand, die nicht die Beste der Welt ist, sondern wie eine Fahrerin, die noch nichts erreicht hat und erst an die Spitze will. Wir unterstützen uns gegenseitig und sind sicher bessere Sportler, als wir es vor der Beziehung waren.

Shiffrin gibt in Interviews und auf Social Media sehr viel preis. Geht Ihnen das manchmal zu weit?

Bei gemeinsamen Beiträgen auf Social Media muss ich meine Komfortzone oft verlassen. Wir haben eine gute Balance gefunden. Sie sagt: «Komm, wir machen das.» Ich sage dann vielleicht eher Nein, aber am Schluss überzeugt sie mich und es passt. Ich habe gelernt, dass solche Beiträge persönlich, aber eben nicht immer perfekt sein müssen. Es darf auch mal lustig aussehen.

Täuscht der Eindruck, oder ist sie viel nahbarer geworden, seit Sie zusammen sind?

Mikaela ist eigentlich eher introvertiert. Vielleicht hiess es deswegen früher, sie sei eine Egoistin. Dabei ist sie eine, die sich unglaublich stark um ihre Teamkolleginnen oder um anderes im Skisport kümmert. Früher war sie eher unsicher, jetzt ist sie viel lockerer und hat mehr Selbstvertrauen. Sie hat gemerkt, dass es viel schöner ist, offen zu sein, statt für sich im Hotelzimmer zu sitzen. Das ist aber nicht nur wegen mir, sie hat auch viel mehr Lebenserfahrung.

Aleksander Aamodt Kilde of Norway in action front of the Matterhorn/Cervino mountain during the men's downhill training race on the new ski course "Gran Becca" at the Alpine Skiing FIS Ski World Cup, between Zermatt in Switzerland and Cervinia in Italy, Wednesday, November 8, 2023. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)

Wie funktioniert eine Beziehung, wenn man sich monatelang kaum sieht?

Die Menschen, die ich liebe, sehe ich selten, weil ich so viel unterwegs bin – so ist das bei mir seit Jahren, ich kenne es fast nicht anders. Bei Mikaela ist es ähnlich, darum verstehen wir einander, darum funktioniert es. Sehen wir uns, geniessen wir die Zeit umso intensiver. Und zumindest am Weltcupfinal fahren wir ja am gleichen Ort.

Könnten Frauen- und Männerrennen häufiger am selben Ort angesetzt werden?

Nicht die ganze Saison hindurch, aber an gewissen Destinationen wäre das sicher denkbar – und es würde die Reisetätigkeit zumindest teilweise reduzieren. Der Klimadebatte muss sich die FIS stellen, sie hat definitiv die Aufgabe, das Programm zu ändern. Fürs Klima wäre es besser, nicht zwei verschiedene Kalender zu haben.