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Vergewaltigungsprozess in Erfurt
Auch in Deutschland: Mann soll zahlreiche Frauen sediert und vergewaltigt haben

Über Jahre soll der mutmassliche Täter Michel R. zahlreiche Frauen sexuell missbraucht haben. Sein Anwalt räumt fast alle Vorwürfe ein.
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In Kürze:
  • Michel R. steht wegen mutmasslicher Vergewaltigung von 17 Frauen vor Gericht.
  • Er nutzte K.-o.-Tropfen und filmte die Übergriffe mit seinem Handy.
  • Die Beweislage ist erdrückend.
  • Sein Anwalt räumt fast alle Vorwürfe ein.

Ihr Vater läuft neben ihr, ganz nah, seine Hand liegt auf ihrer Schulter. Nur so scheint es ihr möglich zu sein, den Erfurter Gerichtssaal überhaupt zu betreten. «Ich war am Ende, ich bin es immer noch», sagt die heute 21-Jährige mit leiser Stimme, nachdem sie Platz genommen hat. Der Vater bleibt an ihrer Seite. Von den 17 mutmasslichen Opfern ist sie wohl die einzige Frau, die sich an den Tathergang erinnern kann. Denn nach allem, was in diesem Prozess bisher bekannt ist, ging nur bei ihr der Plan von Michel R. nicht auf.

Am Rande des «Sputnik Spring Break» im Juni 2022, einem Festival in Sachsen-Anhalt im Osten Deutschlands, traf sie Michel R. auf einem Waldweg. Damals war sie 19. Sie wollte weitergehen, erzählt sie, aber R. verwickelte sie in ein Gespräch. Er bot ihr eine kleine Schnapsflasche an. Sie sagte erst Nein, trank schliesslich doch. Dann bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte.

«Mir ist schlecht und schwindlig geworden.» Irgendwann legte sie sich hin. «Ich musste gegen die Bewusstlosigkeit kämpfen.» R. habe sie schliesslich gepackt und in ein Waldstück getragen. Dort vergewaltigte er sie. Heute, mehr als zwei Jahre danach, habe sie Panikattacken, Schlafstörungen. Sie verlasse nicht mehr das Haus.

Sein Anwalt räumt nahezu alle Vorwürfe ein

Michel R., 34, blickt apathisch auf die Tischplatte vor ihm, als die Frau erzählt. Im Gesicht trägt er Tätowierungen, er ist ein Mann von massiger Statur. Teilnahmslos wirkt er auch dann, als sein Anwalt zum Auftakt dieses Prozesses am Landgericht Erfurt nahezu alle Vorwürfe gegen ihn vollständig einräumt. Zwischen 2013 und 2023 soll Michel R. laut der Staatsanwaltschaft 17 Frauen vergewaltigt haben, manche von ihnen mehrfach.

Die meisten seiner mutmasslichen Opfer waren bewusstlos, als er sie gegen ihren Willen entkleidete und missbrauchte. Nur bei der 19-Jährigen war die Dosis für seine Zwecke offenbar zu gering. Jedes Mal soll er den Frauen sogenannte K.-o.-Tropfen eingeflösst haben. Manche erfuhren erst Monate später von der Polizei, was mit ihnen geschehen sein soll. Die Beweislage gegen Michel R. ist erdrückend, hat er selbst doch fast alles akribisch mit der Handykamera dokumentiert.

Das öffentliche Interesse im Erfurter Landgericht ist nicht ansatzweise so umfassend wie in Avignon, wo derzeit ein grosser Missbrauchsprozess verhandelt wird. Und doch sind die Parallelen unübersehbar. Wie Dominique Pelicot, der Hauptangeklagte in Avignon, sedierte auch Michel R. seine Opfer, er handelte serienweise, und er filmte seine Taten akribisch, ohne sich besondere Mühe dabei zu geben, die Dokumentation zu verbergen.

Am Ende war es wie bei Pelicot eine andere Art von Übergriff, der ihn schliesslich überführte: In der Silvesternacht 2023 soll er versucht haben, eine Frau auf der Strasse zu überfallen. Nachdem ihn die Polizei aufgegriffen hatte, überprüfte sie sein Handy. Dort fand sie die zahlreichen Videos der mutmasslichen Übergriffe.

Den Stoff kaufte er im Internet

Die Taten liefen häufig ähnlich ab. R. empfängt Frauen bei sich zu Hause. Oft kennen sie sich länger, mit manchen ist er zum Tatzeitpunkt in einer Beziehung. Dann setzt er seinen Plan um: R. bietet seinem Gegenüber ein Getränk an. Bier, Wodka Orange, Whiskey Cola. Die Frauen trinken. Ihnen wird schlecht, sie verlieren das Bewusstsein. R. entkleidet sie, vergewaltigt sie, teils mehrfach und über Stunden.

Laut der Anklageschrift sollen sich die bewusstlosen Frauen wegen der K.-o.-Tropfen mitunter krampfartig bewegt haben und blau angelaufen sein. Manche können Blase und Darm nicht mehr kontrollieren. R. säubert sie. Als sie später paralysiert aufwachen, will R. sie beschwichtigt haben. «Ich habe es quasi immer auf den Alkohol geschoben.» Der Stoff für die K.-o.-Tropfen habe er sich im Internet besorgt.

Viele Frauen haben keinen Beleg

Die Frauen mögen gespürt haben, dass etwas nicht stimmt, aber sie haben keinen Beleg dafür. So war es in Avignon und Erfurt, und so ist es häufig. «Die meisten ahnen, dass irgendetwas passiert ist», sagt Charlotte Hirz, die als klinische Psychologin von sexualisierter Gewalt betroffene Personen in Berlin berät. «Viele denken: Ich habe doch nur ein Bier getrunken, aber erinnere mich an fast nichts mehr aus der Nacht.» Manche haben Schmerzen, wachen nicht dort auf, wo sie eingeschlafen sind. Fast jede zehnte Person, die Hirz berät, vermutet K.-o.-Tropfen oder andere Substanzen hinter einer Vergewaltigung.

K.-o.-Tropfen sind nur wenige Stunden im Blut oder Urin nachweisbar. Juristisch lassen sich die meisten Taten schwer nachweisen, weil oft Beweise fehlen. Wirken die oftmals in Bars oder Clubs heimlich in Getränke getropften Substanzen, können sich die meisten Frauen später an die Übergriffe nicht erinnern.

Der Gang zur Polizei blieb erfolgslos

Die damals 19-Jährige, die von Michel R. am Rande des Festivals vergewaltigt worden sein soll, ging nach der Tat zur Polizei. Damals, im Juni 2022, hätte Michel R. bereits gefasst werden können. Mehr als 20 seiner mutmasslichen Taten hatte er da noch nicht verübt. Aber ihr Gang zur Polizei blieb offenbar folgenlos.

Michel R. konnte mutmasslich weitermachen. Wenige Tage nach dem Festival soll er der nächsten Frau ein Getränk verabreicht haben, diesmal im Erfurter Stadtpark. Als diese benommen gewesen sei, habe er auch sie vergewaltigt und die Tat gefilmt. Manche der Frauen sind trotz der Bildaufnahmen bislang nicht identifiziert. Ihr Alter schätzt die Staatsanwaltschaft auf «zwischen 16 und 25 Jahre». Ein weiteres bereits identifiziertes Opfer war zum Tatzeitpunkt erst 17 Jahre alt.

Bis Ende Dezember wurden weitere Verhandlungstermine angesetzt. Im Prozess richtete sich die Staatsanwältin schliesslich an die junge Frau: «Ich möchte mich entschuldigen, dass die Strafverfolgungsbehörden Ihnen zunächst mit Misstrauen begegnet sind.»