Massnahmen im FrankreichDer Prozess um Gisèle Pelicot hat nun politische Folgen
Das Vergewaltigungsopfer ist zur Symbolfigur einer neuen sozialen Bewegung geworden. Nun bewegt sich auch die Regierung in Paris.

Ihr Gesicht prangt nun auf Stadtmauern und Protestplakaten, wie eine Ikone. Gisèle Pelicot, 72 Jahre alt, wird mit jedem Tag etwas mehr zur Symbolfigur für den Kampf gegen die Gewalt an Frauen, gegen alte Reflexe des Patriarchats, gegen das, was man die «Kultur der Vergewaltigung» nennt, eine Unkultur.
An diesem Wochenende haben in Frankreich Zehntausende Menschen gegen all das demonstriert, und viele trugen Tafeln und Spruchbänder mit Hommagen an Gisèle Pelicot, die seit bald drei Monaten in Avignon einen Prozess über sich ergehen lässt, der in jeder Hinsicht beispiellos ist – unter anderem auch wegen ihrer Courage.
Während fast zehn Jahren hat ihr Mann, mit dem sie fünfzig Jahre lang verheiratet war, sie betäubt und Dutzenden Männern zur Vergewaltigung angeboten – zuletzt auch drei Mal pro Woche. 51 Männer stehen vor Gericht. Ein Kriminalfall wie keiner, die Taten auf Videos festgehalten. Und wenn Medien aus der ganzen Welt darüber berichten, dann nur, weil Gisèle Pelicot entschieden hat, die Öffentlichkeit teilhaben zu lassen, die Tür zum Gericht zu öffnen. Zum Prozessauftakt sagte sie, Scham und Schande müssten die Seite wechseln. Auf Französisch: «La honte doit changer de camp.»
Junge Frauen mobilisieren sich
Dieser Satz gilt nun als Leitmotiv einer neuen gesellschaftlichen Bewegung, die in den vergangenen Wochen zusehends wuchs. Französische Fernsehsender interviewten Teilnehmer der Grosskundgebungen in allen Städten des Landes, die bereits am Samstag für den Internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen vom Montag organisiert worden waren, und immer wieder waren da junge Frauen dabei, die sagten, sie hätten früher nie demonstriert. Das Beispiel Gisèle Pelicots aber inspiriere sie.
«Merci Gisèle», stand auf vielen violetten Postern, etwa in Paris, wo sich ein langer Marsch von der Gare du Nord bis zur Place de la Bastille zog. Die Zeitung «Le Parisien» titelt dazu: «Gisèle Pelicot in allen Herzen.»

Seit Beginn des Prozesses in Avignon fragt man sich in Frankreich, ob dieser Fall neben der grossen Öffentlichkeit auch die Politik und die Gesetzgeber bewegt. Lange hatte es den Anschein, als warteten die das Urteil ab, das erst kurz vor Weihnachten fallen soll: Nur die üblichen Stimmen erhoben sich, eine breite politische Debatte über einen besseren gesetzlichen Schutz für die Frauen gab es bisher nicht. Nun aber bewegt sich etwas.
Die Sonntagszeitung «La Tribune Dimanche» berichtet exklusiv, dass Frankreichs konservativer Premierminister Michel Barnier eine Reihe von Massnahmen bekannt geben werde – als Reaktion «auf die Welle des Schocks», die vom Prozess ausgeht.
Anzeige im Spital
So soll es unter anderem bald möglich sein, dass Frauen, die nach einer Vergewaltigung ins Spital gehen, dort auch gleich Anzeige erstatten können. Und zwar in allen Kliniken. Bislang ist es fast überall so, dass die Frauen nach der ärztlichen Untersuchung zum Polizeiposten gehen müssen, was sich längst nicht alle trauen, gerade auf dem Land, wo jeder jeden kennt.
Neuerdings soll das Prinzip umgedreht werden: Die Beamten kommen ins Spital, der Kontext ist ein anderer. Das Prozedere der Beweisaufnahme soll beschleunigt werden, damit sich die Spuren von Drogen und Medikamenten bei Frauen, die von ihren Vergewaltigern sediert wurden, auch rechtzeitig feststellen lassen.

Auch dieser Passus hat mit dem Prozess in Avignon zu tun. Gisèle Pelicots Tochter, Caroline Darian, vermutet, dass ihr Vater auch sie betäubt und missbraucht haben könnte. Sie verzweifelt daran, dass sie keine Gewissheit hat. Es ist dies das Schicksal von vielen Frauen. Caroline Darian hat eine Vereinigung gegründet, die sich «M’endors pas» nennt – «Betäube mich nicht».
Barniers Regierung lanciert nun zusammen mit Darians Vereinigung eine Kampagne in Frankreich, die auf das Phänomen aufmerksam macht: In 20’000 Apotheken in Frankreich sollen die Frauen in Zukunft über einen QR-Code alle notwendigen Informationen abrufen können – auch die Adresse und die Telefonnummer einer Plattform, die Frauen hilft, die den Verdacht haben, vor sexuellen Vergehen betäubt worden zu sein.
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