Reportage zum Vergewaltigungsprozess von AvignonIhr müsst euch schämen, nicht ich
Ihr Ehemann hat Gisèle Pelicot sediert, hindrapiert und Dutzenden Männern zur Vergewaltigung angeboten. Zur Halbzeit des Prozesses fragt sich: Ändert sich jetzt etwas in der Gesellschaft - in Frankreich und in der Welt?
Ihr Lächeln hält die Welt zusammen, so gut es eben geht. Ihr warmes Lächeln.
Es ist 8.30 Uhr, ein Donnerstagmorgen in Avignon, Südfrankreich. Gisèle Pelicot kommt mit ihren Anwälten, einer geht rechts von ihr, einer links. Es sind schmale Männer aus Paris, sie tragen ihre schwarzen Dienstroben noch über dem Unterarm und schirmen ihre Mandantin ein bisschen ab vor den Blicken des Publikums. Es sind vor allem Frauen, jeden Morgen stehen sie vor dem Gericht Schlange, um dabei zu sein. Die Anwälte schützen ihre Mandantin auch vor den Kameraleuten, die aufgeregt um die besten Aufnahmeplätze ringen. Immer noch, immer mehr. Sie ist jetzt eine Ikone.
Wieder gibt es Applaus, er hallt nach in der Lobby des Tribunals. Und Gisèle Pelicot, 72 Jahre alt, lächelt scheu und warm zurück in die Menge, führt die Hände zusammen, legt den Kopf zur Seite, fasst an ihren beigefarbenen Schal. Ein paar Sekunden nur, dann verschwindet sie wortlos in der Salle Voltaire, dem Gerichtssaal, in dem ihr Leben verhandelt wird.
Eine vermeintlich glückliche Ehe
Es ist schon oft über ihre Würde geschrieben worden, über ihren kerzengeraden Gang, diesen fast weihevollen Auftritt. Alles wahr. Aber es ist das Lächeln, das den Raum füllt. Ohne ihr Lächeln wäre dieser Prozess im Palais de Justice von Avignon nicht auszuhalten.
Zwei Monate sind um. Es ist Halbzeit im Prozess der «Vergewaltigungen von Mazan», benannt nach dem kleinen Ort bei Avignon, in dem die Taten passiert sind. Im Prozess Pelicot, wie man ihn auch nennt, weil Gisèle Pelicot ein offenes Verfahren wollte, eines mit Klarnamen, mit Bildern und Videos. Damit die Welt zuschauen kann, damit sie sich gewahr wird über die Abgründe, die sich manchmal dort auftun, wo man es am wenigsten erwartet, wo man sich sicher fühlt, daheim, in einer vermeintlich glücklichen Ehe.
Während zehn Jahren, von 2011 bis 2020, wurde Gisèle Pelicot von ihrem Mann, Dominique Pelicot, heute 71, mit Schlafmitteln vollgepumpt und Dutzenden Männern zur Vergewaltigung angeboten. Zehn Jahre, ohne ihr Wissen. Sie hätte sich sagen können, das geht die Öffentlichkeit nichts an, das schmerzt schon so sehr, dass ich mich nicht auch noch ausstelle. Aber Gisèle Pelicot fand, das geht alle etwas an. Die Franzosen, die Menschheit.
Plötzlich war klar, dieser «Supertyp» war ein Täter
Aus Gisèle P. wurde Gisèle Pelicot, und aus dem Prozess in der Provinz wurde ein Jahrhundertprozess, verfolgt auf der ganzen Welt. Dank ihr, dank ihres Muts.
«C’est énorme», sagt Alexandre Guey, ein Journalist vom «Dauphiné Libéré», einer südfranzösischen Regionalzeitung. «Wer hätte es für möglich gehalten, dass dieser Prozess so gross werden würde?» Über Avignon hinaus, über Frankreich.
Guey verfolgt den Fall, seit er begonnen hat, also seit 2020. Damals war Dominique Pelicot erwischt worden, wie er in einem Einkaufszentrum von Carpentras Frauen unter die Röcke filmte. Ein Sicherheitsmann forderte die Frauen auf, den Mann anzuzeigen. Er insistierte mehrmals, es gibt Tonaufnahmen davon, ein Held ohne Allüren: Er wollte nie, dass man ihn interviewt. Eine Frau zeigte Pelicot an. Die Polizei fand, es könnte sich lohnen, den Fall umfassend zu prüfen. Sie untersuchte die Festplatte von Pelicots Computer und fand da den ganzen Horror.
Tausende Bilder und Videos, abgelegt in einem Ordner, den er mit «Abus» betitelt hatte, Missbrauch. Jeden Clip und jedes Foto hat er beschriftet mit den Namen der Männer, die da zu sehen sind. Er hatte sie auf der Internetplattform Coco.fr kontaktiert und zu sich ins Haus geholt, ins Schlafzimmer, wo seine betäubte Frau lag, im tiefen Schlaf, nackt oder mit Reizwäsche. Hindrapiert und präpariert für das Verbrechen. Dass er die Besucher dabei filmte, schien nur wenige von ihnen zu stören.
Für Gisèle Pelicot brach die Welt zusammen, als sie davon erfuhr, und für einmal passt die Metapher in ihrer ganzen Wucht. Der Mann, den sie seit fünfzig Jahren liebte, den sie für einen «super mec» hielt, einen Supertypen, für einen liebenden Vater ihrer drei Kinder, einen aufmerksamen Grossvater, er war ein Täter.
Die Geschichte beschäftigt die Menschen in der Region also schon seit einigen Jahren. Aber bis zur Eröffnung des Verfahrens blieb sie recht klein, auch in Frankreich. Erst die Entscheidung, dass der Prozess nicht «à huis clos», also «hinter geschlossenen Türen», stattfinden würde, machte die Geschichte riesig.
Der Prozess belastet auch seine Berichterstatter
Die Journalisten internationaler Medien kommen und gehen, die meisten mit dem Schnellzug, dem TGV, für einen oder zwei Tage aus Paris. Guey aber war bisher an jedem Verhandlungstag dabei, seit Beginn. Er ist einer von nur wenigen Männern unter den Reportern. An diesem Tag sind es drei von fünfzehn, der Rest sind Frauen. Guey steht immer schon ganz früh am Morgen am Tor, damit er auch sicher einen der etwa dreissig Plätze bekommt, die hinten rechts für die Journalisten reserviert sind. An wichtigen Verhandlungstagen sind die schnell weg, dann müssen die Journalisten in einen Nebensaal ausweichen, in den der Prozess übertragen wird. Aber das ist natürlich nicht dasselbe.
Kommende Woche ist der Prozess ausgesetzt. «Dann mache ich Ferien, zusammen mit dem Gericht», sagt Guey. Es sei Zeit. Der Prozess belastet auch die Berichterstatter.
Vor der Salle Voltaire steht jetzt Béatrice Zavarro, die Verteidigerin von Dominique Pelicot, eine energische Frau aus Marseille, kurze, graue Haare, feuerrote Brille. Maître, ein paar Fragen? «Klar», sagt sie, «schiessen Sie los.»
Wie kommt es, dass dieser Prozess alle bewegt, weltweit? «Das liegt vor allem daran, dass Madame Pelicot beschlossen hat, die Tür zu öffnen», sagt sie, «so wurde der Prozess riesig und grundsätzlich, das Thema Vergewaltigung lag plötzlich auf dem Tisch mit allen seinen Aspekten.» Gisèle Pelicot habe damit der Welt da draussen gesagt: Schaut und hört euch das an, das alles habe ich erlitten, ja, aber es ist nicht an mir, mich zu schämen, mich zu verstecken, diskret zu sein, im Gegenteil.
«Und das ist eine gute Sache: Mein Mandant hatte nichts dagegen, er sagte zu mir: ‹Ich verstehe das. Es wäre ja auch unanständig, wenn ich das kritisieren würde.›» Und dann sei der Prozess auch deshalb so gross, weil halt alles daran gross sei: die Anzahl der Angeklagten, die Dauer des Prozesses, die Taten natürlich. «So etwas hat es wohl noch nie gegeben.»
Eine Zäsur ist das. Es werde deshalb ein Vorher und ein Nachher geben, sagt die Anwältin noch. Un avant et un après Mazan.
Das sagen jetzt alle. Als gäbe es eine Garantie dafür, dass sich nach diesem Prozess ein neues Bewusstsein auf die Gesellschaft legt. Dass es in Frankreich dann auch ein neues Gesetz geben wird gegen die Vergewaltiger, ein schärferes, in dem auch das explizite Einverständnis der Opfer eine Rolle spielen sollte. Dass vielleicht sogar einige Grundfesten des Patriarchats zu wanken beginnen, ein bisschen wenigstens, in Frankreich ist es noch immer stark. Dass dann auch ernsthaft über die «Kultur der Vergewaltigung» gesprochen wird, wie das Feministinnen schon lang fordern, über die Darstellung von sexueller Gewalt in der Pornografie.
Die Hoffnung: ein neues Gesetz, ein neues Bewusstsein
Einundfünfzig Männer treten in diesem Prozess als Angeklagte auf, junge und ältere, arbeitende und arbeitslose, verheiratete und unverheiratete, vorbestrafte und solche ohne Strafregister, es ist ein Querschnitt der Gesellschaft. Normal, unheimlich banal. Es gäbe noch ein paar Dutzend Fälle mehr, festgehalten auf den Videos im Ordner «Abus», aber bisher konnten die Ermittler nur diese einundfünfzig identifizieren.
Viele von ihnen waren schon dran. Für jeden nimmt sich das Gericht viel Zeit. Keiner leugnet die Fakten, das wäre auch unmöglich: Das Material aus Pelicots Computer zeigt die Männer bei ihren Taten. Die allermeisten leugnen aber, dass sie, als sie zum Haus der Pelicots in Mazan fuhren, wussten oder gar die Absicht hatten, Gisèle Pelicot zu vergewaltigen. Sie sagen, sie hätten gedacht, Teil einer Ménage-à-trois zu sein, eines Szenarios aus der Fantasie des Paars. Dominique Pelicot habe sie reingelegt, manipuliert oder bedrängt. Alles Versuche, ihr eigenes Strafmass zu mindern.
Das Gericht hat sich zunächst schwergetan, die Videobeweise im Saal zu zeigen. Doch Gisèle Pelicot bestand darauf, sie kämpfte darum, obwohl die Bilder sie in aller Intimität zeigen. Wann gibt es das schon, dass in einem Vergewaltigungsfall nicht Aussage gegen Aussage steht? Oft wendet sich die weiche Indizienlage gegen die Frauen. In Frankreich, berichtet «Le Monde», werden 94 Prozent aller Vergewaltigungsklagen jedes Jahr folgenlos archiviert, ohne Prozess.
Ändert sich das jetzt? Ein Vorher und ein Nachher? Einundfünfzig Angeklagte. Einundfünfzig Täter und ein Opfer. Normalerweise ist es in solchen Gerichtsfällen so, dass viele Opfer einem Täter gegenüberstehen. Diesmal ist es umgekehrt.
«Fickt», «Fickt gut», «Fellatio» – als wärs Bürokratie
Zu den Videos schrieb Dominique Pelicot, der Hauptangeklagte, jeweils noch, was die Männer in den gefilmten Szenen seiner Frau antaten. Der Gerichtspräsident, Roger Arata, ein Mann mit sehr weissem, gescheiteltem Haar und perfekt gestutztem Schnurrbart, muss die Titel immer im Wortlaut vorlesen, wenn er die Ausstrahlung eines Videos ankündigt. «Cunnilingus» – «Fickt» – «Fickt gut» – «Fellatio». Nach zwei Monaten hören sich diese Worte beinahe normal an, stumpf, wie bürokratischer Kram.
Für diesen Herbsttag, 24. Oktober, sind sechs Mitangeklagte zitiert worden. Drei von ihnen kommen zusammen ins Gericht, sie sind alle auf freiem Fuss. Sie huschen den Mauern entlang, an der Menge vorbei, Kapuzen und Schirmmützen ins Gesicht gezogen. Einer hat auch noch eine hellblaue Maske auf, wie man sie während der Pandemie trug. Bei der Sicherheitskontrolle mit dem Metalldetektor vor der Salle Voltaire brauchen sie sich nicht auszuweisen, eh klar, wer sie sind, sie gehen einfach durch die piepende Schranke.
Die Kameraleute halten drauf, solang die Männer noch vor dem Saal sind, das dürfen sie. «Es reicht jetzt, verdammt noch mal», ruft eine junge Anwältin. «Putain!» Drinnen ziehen die Männer ihre Kappen aus, schauen sich um, als wären sie in einer anderen Welt gelandet.
Als die Richter den Saal betreten, stehen alle auf, nur Dominique Pelicot nicht, der Hauptangeklagte. Der sitzt auf einem blauen Stuhl in einem Glaskasten vorne links, neben sich eine Krücke und zwei Polizisten. Er studiert den Saal, wer da ist, wer nicht, ganz ruhig, er weicht dem Blick nicht aus, manchmal greift er zu einer Wasserflasche, die sie ihm hingestellt haben, eineinhalb Liter. Ganz so schlecht zu Fuss scheint er nicht zu sein. Wenn seine Anwältin, Maître Zavarro, durch einen breiten Spalt im Panzerglas mit ihm spricht, ihren Arm auf seiner Schulter, steht er ganz stabil.
Er legte sich nackt neben sie, sie schnarchte
Als Erster ist nun Florian R. dran, 32, Kurier, ein muskulöser junger Mann im engen Pullover. Gisèle Pelicot schaut ihn von der Seite an, den Hinterkopf an die Mauer gelehnt. Zur Tatzeit war der junge Mann 27. Auf Coco.fr gab er sich das Pseudonym «Flo de Bédoin», so heisst das Viertel von Carpentras, in dem er lebte. Zwischen der ersten Kontaktnahme mit Dominique Pelicot und der Tat verging nur sehr wenig Zeit, eine halbe Stunde vielleicht.
Er fuhr nach Mazan, um 2.30 Uhr in der Nacht, parkierte den Wagen auf dem Parkplatz beim Gymnasium. Dominique Pelicot forderte ihn auf, sich in der Küche auszuziehen, die Hände am Radiator zu wärmen und leise zu sein, seine Frau schlafe. Im Video sieht man, wie sich Florian R., der nur noch seine grauen Socken trägt, neben Gisèle Pelicot hinlegt und sie penetriert. Sie liegt auf der Seite, halb bedeckt von einer Decke. Man hört sie schnarchen.
Der Gerichtspräsident fragt jetzt Florian R., was er sich denn gedacht habe, als er sie schnarchen hörte. Nun, es sei schon nicht normal gewesen, dass sie sich nicht bewegt habe, sagt der Angeklagte, eine «komische Atmosphäre». So etwas habe er nicht gesucht, er sei für ein Sexspiel mit einem Paar dorthin gegangen.
In der letzten Szene des Videos sieht man, wie ihm Dominique Pelicot ein Papiertuch reicht, mit dem sich «Flo de Bédoin» sein Glied putzt. Ejakuliert habe er aber nicht, beteuert er jetzt, er habe nur so getan, um Dominique Pelicot nicht zu enttäuschen. Der sei sehr bestimmend gewesen.
Der Gerichtspräsident gibt Dominique Pelicot das Wort, damit der die Aussagen kommentieren kann. Er macht das mit einer Seelenruhe, Mikrofon am Mund: «Merci, Monsieur le Président.» Während der Ausstrahlung des Videos hatte er den Blick gesenkt und sein Gesicht mit seiner linken Hand verdeckt, das macht er immer so. Auch Gisèle Pelicot schaut jeweils weg, wenn die Videos laufen. Dominique Pelicot sagt jetzt: «Was soll ich sagen: Er hat ejakuliert, sonst hätte er ja kein Papiertuch gebraucht.»
Nun geht es um die Frage, ob Florian R., so er dann ejakuliert hat, in Gisèle Pelicot ejakulierte, ganz oder halb, und wie er, Dominique Pelicot, denn sichergestellt hat, in diesem und in allen anderen Fällen, dass seine Frau das nach dem Aufwachen nicht gemerkt habe. Dominique Pelicot sagt ganz leise, das habe er doch schon oft erklärt, er habe dafür ein «spezielles Reinigungstuch» benutzt.
«Ich bin doch nur ein kleiner Dorfelektriker»
Dann ist Patrice M. dran, 55 Jahre alt, Elektriker. «Der kleine Dorfelektriker», so nennt er sich selbst. Patrice M. ist sehr redselig, alles muss raus. «Ich war ein Vollidiot, König der Trottel, was wollen Sie noch hören?» Aber nein, er sei da nicht hingefahren, um eine Frau zu vergewaltigen. Natürlich sehe das in dem Video jetzt so aus.
«Und das Schnarchen, Herr M.?», fragt der Gerichtspräsident. «Ja, das Scharchen ist laut, ganz offensichtlich», sagt Patrice M. «Aber was wusste ich schon?» Der Gerichtspräsident hakt nach: «Aber Sie hatten doch immer noch Ihr Hirn, nicht?» – «Ja, aber ich war ein Blödmann, ich habs nicht kapiert.»
Als Dominique Pelicot ihm dann erzählt habe, dass er seine Frau mit Pillen betäube, seit Jahren schon, dass er Gisèle Pelicot auch schon auf Autobahnraststätten sediert und Lastwagenfahrern ausgeliefert habe, sei er sofort aufgestanden und gegangen. Er habe Pelicot einen «Kranken» genannt, «un malade». Aber zur Polizei ging er nicht damit. «Wer hätte mir schon geglaubt», sagt Patrice M. «Ich bin doch nur ein kleiner Dorfelektriker.»
Abdelali D. gibt alles zu. Warum? «Ich weiss es nicht.»
Dann kommt Abdelali D., 47 Jahre alt, früher Unternehmer, Alkoholiker. Er stellt sich nicht ans Rednerpult, er setzt sich davor hin. Vor einigen Jahren, eine Weile nach den Taten, hat er einen Schlaganfall erlitten, seitdem geht er mit Mühe. Abdelali D. war zweimal im Haus von Mazan, das erste Mal fuhr ihn seine Frau hin, sie sind Swinger. Er wusste von Anfang an, dass Gisèle Pelicot betäubt sein würde, er steht auch dazu. «Herr D.», sagt der Richter, «das sind zwei Vergewaltigungen, können wir das so festhalten?» – «Ja.» – «Sie geben die Taten also zu, Herr D., das hatten wir noch nicht, warum tun Sie das?» – «Ich weiss es nicht.»
Das Gericht verzichtet auf die Videos, die braucht es in diesem Fall nicht. Das Wort geht an Dominique Pelicot. «Immerhin einer, der zu seinen Taten steht – alles, was er sagt, stimmt», sagt er, als stehe es ihm zu, Noten zu verteilen.
Erst drei sind durch, für zwei weitere reicht es noch an diesem Tag. Im Saal steht die Luft, miefig und schwer.
Jetzt kommt Grégory S., 31 Jahre alt, vorbestraft wegen Drogendelikten. Er war 24 zur Tatzeit und in jener Phase seines Lebens ständig bekifft. «Ich rauchte Joints wie andere Zigaretten», sagt er. Auch Grégory S. beteuert, er sei im falschen Film aufgewacht, er habe etwas anderes erwartet, ein Spiel zu dritt, das «Delirium eines Ehepaars». Und wenn er am Ende trotzdem einen Orgasmus gehabt habe, dann nur aus Angst vor Dominique Pelicot.
«Aus Angst?», fragt Antoine Camus, der Anwalt von Gisèle Pelicot. «Kann man aus Angst ejakulieren, Herr S.?» Gelächter im Saal.
Die Psychologin schaltet sich aus Nouméa zu
Freitag, 25. Oktober, letzter Verhandlungstag vor der Pause, neben den Bänken der Anwälte und Reporter aus Paris stehen schon die Rollkoffer und Rucksäcke. Es ist Zeit.
Aus einem Gerichtssaal in Nouméa, Neukaledonien, mitten im Südpazifik, wird eine Psychologin zugeschaltet, die ein halbes Dutzend der Angeklagten getroffen und analysiert hat, sie lebt dort. Der Gerichtspräsident bat alle um sehr pünktliches Erscheinen, «Punkt neun Uhr», wegen der Zeitverschiebung.
Die Psychologin widmet jedem Angeklagten mehr als eine Stunde, sie erzählt von den Ticks, die sie ausgemacht hat bei ihrem Treffen damals im Gefängnis, die meisten sassen in Aix-en-Provence ein, von sexuellen Neigungen, von traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit. Die Gutachten sollen dem Gericht helfen, die Motive der Angeklagten einzuschätzen, ihre möglichen Perversionen, vielleicht auch mildernde Umstände. Im Höchstfall drohen den Angeklagten zwanzig Jahre Haft.
Zwischendurch kläfft in Nouméa ein Hund, man hört das durch die Leitung. Es ist dort jetzt bald Mitternacht.
Wie konnte er nur? Sie fragt sich das noch immer
Bleibt die Frage, warum dieser Mann seiner Frau das alles angetan hat, wie er nur konnte. Einem der Angeklagten soll Dominique Pelicot erzählt haben, dass er sich an ihr räche.
«Ich habe mich bei der Vorbereitung auf den Prozess oft gefragt, wie dieser Mann, der der perfekte Mann war, zu so etwas imstande sein konnte», sagte Gisèle Pelicot einmal im Gericht. «Ich habe es noch immer nicht verstanden.» Rache? «Daran habe ich auch gedacht.» Sie habe vor langer Zeit mal eine Affäre mit einem anderen Mann gehabt. «Aber das war vor dreissig Jahren, und er hatte doch auch seine Mätressen. Wir haben viel darüber gesprochen, wir sagten zueinander: Was solls, wichtig ist, dass wir noch zusammen sind.»
Wie konnte er nur?
Es soll also ein Vorher und ein Nachher geben. Un avant et un après Mazan. Alles andere wäre verrückt.
Die Medien leisten ihren Teil dazu, sie erzählen alle Details, weil hier die Details zählen, auch das Geflüster der Vergewaltiger bei der Tat. In den französischen Zeitungen erscheinen Petitionen für eine neue Gesetzgebung. Es war früher schon oft so, dass ein besonders emblematisches Verbrechen, ein besonders bedeutsamer, viel beachteter Prozess das Gesetz veränderte, und damit auch die Gesellschaft. Aber natürlich gibt es keine Garantie dafür.
Die französische Politik ist sonderbar still, bisher meldeten sich nur die Üblichen zu Wort. Das ist kein gutes Zeichen, das ist nicht genug für eine breite, gesellschaftliche Bewusstseinsänderung. Wie Gisèle Pelicot sie sich wünscht.
Mit ihrer Würde. Mit ihrem Mut. Mit ihrem warmen, weltfüllenden Lächeln.
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