Mutmassliche VergewaltigungEin Prozess, wie ihn Frankreich noch nicht erlebt hat
Neun Jahre lang verabreichte ein Mann seiner Ehefrau immer wieder heimlich Schlafmittel und bot sie anderen Männern an. Der Fall erschüttert das Land.
In Avignon wird ein Gerichtsfall verhandelt, wie ihn Frankreich noch nicht erlebt hat. Und das öffentlich, weil Gisèle P., das Opfer, es so wollte. Sie hätte auch einen Ausschluss der Öffentlichkeit verlangen können, das hätten alle verstanden. Doch sie fand, die Franzosen sollten in die menschlichen Abgründe sehen können, denen sie ausgesetzt war – in die sexuellen Perversionen ihres Mannes und von mindestens 51 weiteren Männern, die sie in den Jahren von 2011 und 2020 vergewaltigt haben. Ohne dass sie davon wusste. Die französischen Medien, alle Medien, sind voll mit dieser unfassbaren Geschichte. Die Zeitung «Libération» berichtet über vier Seiten.
Gisèle und Dominique P., heute 72 respektive 71 Jahre alt, drei erwachsene Kinder, lebten lange in der Nähe von Paris. Dann zogen sie nach Mazan, eine kleine Stadt im Süden Frankreichs, 6000 Einwohner. Sie mieteten da ein Haus mit Swimmingpool, scheinbar normale Verhältnisse. Der Mann hatte bei EDF gearbeitet, der grossen französischen Stromgesellschaft. Nun war er pensioniert, fuhr mit Freunden mit dem Rad übers Land, kümmerte sich um die Enkel.
Plötzlich kam die Polizei vorbei
Vor vier Jahren kam dann plötzlich die Polizei vorbei, sie brachte Dominique P. gleich mit. Sie hatte ihn in einem Supermarkt in Carpentras erwischt, wie er versucht hatte, Frauen unter die Röcke zu fotografieren. Gisèle P. war zu Hause, völlig überrascht. Ihr Mann sei ein «Super mec», ein Supertyp, sagte sie zu den Beamten, als sie sie fragten, und ein aufmerksamer Vater sei er auch. Ihr Sexualleben? «Normal.» Die Geschichte mit den Fotos müsse ein Missverständnis sein, gar nicht anders möglich.
Die Polizei hatte ihre Zweifel und beschlagnahmte Dominique P.’s Computer. Auf der Festplatte fand sie sehr viel Verstörendes und Unmissverständliches. Es gab da eine Datei, die er «Abus» nannte, Missbrauch. Dominique P. hatte darin Tausende Fotos und Videos abgelegt. Sie zeigten Gisèle P., seine Frau, wie sie reglos daliegt beim Geschlechtsverkehr mit fremden Männern, oft mit einem Leintuch auf dem Gesicht. Manchmal hört man sie schnarchen.
Jedes Dokument trägt den Vornamen eines Mannes, ein Datum. In gewissen Fällen steht da noch, wie oft der mutmassliche Vergewaltiger schon da gewesen war, zum Beispiel: «Nacht des 9.6.2020 Charly sechstes Mal». Dominique P. hatte seiner Frau jeweils eine sehr hohe Dosis des Beruhigungsmittels Temesta ins Essen oder ins Getränk gemischt, er hatte sie damit sediert.
Es gab Regeln. Geld forderte er nicht
Die Männer fand er auf einem einschlägigen Internetforum, das mittlerweile verboten wurde. Es waren Männer fast jeden Alters, zwischen 22 und 68 Jahren zur Tatzeit. Männer aus fast allen Berufen: Maurer, Feuerwehrmann, Journalist, Gärtner, Militär. Verheiratete Männer mit Kindern, unverheiratete Männer. Solche mit Einträgen im Strafregister wegen sexueller Vergehen und völlig unbescholtene Männer.
Dominique P. postete jeweils unter dem Vermerk «A son insu», «Ohne ihr Wissen». Geld forderte er nicht dafür. Es gab Regeln: Die Männer sollten ihr Auto nicht zu nahe beim Haus parkieren, nicht rauchen vorher, kein Parfüm tragen und die Hände an der Heizung aufwärmen, damit Gisèle P. nicht aufwache. Ausziehen sollten sie sich in der Küche des Hauses. Auf den Videos wird geflüstert. In seiner Perversion war es Dominique P. wichtig, dass die Männer ungeschützt Sex hatten mit seiner Frau.
Die Ermittler machten 83 mutmassliche Täter aus, 51 von ihnen konnten identifiziert werden. Allen droht im Höchstfall eine Haftstrafe von zwanzig Jahren. Als die Ermittler die Männer mit ihren mutmasslichen Straftaten konfrontierten – und mit den Bildern davon –, räumten manche ein, dass sie gewusst hätten, dass Gisèle P. nicht bei Bewusstsein war. Andere erzählten, sie hätten die beiden Eheleute für ein Paar von Swingern gehalten, das seine Fantasie ausspielte, mit einem genau ausgedachten Szenario. Dominique P. aber behauptete, alle Männer hätten gewusst, was mit seiner Frau passierte: «à son insu».
Man prüfte, ob sie an Alzheimer leide
Neun Jahre lang ging das so. Den Kindern war aufgefallen, dass ihre Mutter oft müde war und abwesend wirkte. Irgendwann nahm man an, sie könnte an Alzheimer leiden. Ärzte untersuchten sie, doch neurologische Probleme machten sie nicht aus. Dominique P. erzählte nun herum, dass die Enkel seine Frau so müde machten.
Erst als die Polizei die dunkle Seite ihres Mannes aufgedeckt hatte, erinnerte sich Gisèle P. an kuriose Vorfälle. Einmal, erzählte sie, habe er ihr ein Weissbier gereicht, das aber ganz grün gewesen sei. Sie habe es in den Supermarkt zurückbringen wollen, doch er habe sie daran gehindert und es schnell weggeschüttet.
Der Prozess soll vier Monate lang dauern, so gross ist die Zahl der Angeklagten. Gisèle P., so erzählt es ihr Anwalt, Antoine Camus, wolle allen diesen Männern ins Gesicht schauen können. Vor allem will sie natürlich, dass ihr Mann, von dem sie sich nun scheiden lässt, ihren Blick vor Gericht ertragen muss. «Fünfzig Jahre hat sie mit ihm gelebt, mit 68 wurde ihr gewahr, wer er eigentlich ist», sagte der Anwalt.
Er wird auch des Mordes verdächtigt
Als Nebenkläger treten im Prozess ihre zwei Söhne und ihre Tochter auf. Die Tochter hat vor zwei Jahren unter Pseudonym ein Buch mit dem Titel «Et j’ai cessé de t’appeler papa» geschrieben, etwa: «Und dann habe ich aufgehört, dich Papa zu nennen». Es geht darin um Vergewaltigung nach Verabreichung von Drogen, sie kämpft jetzt für mehr öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem. In den beschlagnahmten Computerfiles des Vaters gab es auch Bilder, die die Tochter in Unterwäsche zeigten, schlafend.
Und noch etwas fanden die Ermittler heraus, als sie die DNA von Dominique P. bestimmt hatten: Sie passte zu zwei ungelösten Kriminalfällen aus den Neunzigerjahren – zu einer Vergewaltigung und einem Mord mit Vergewaltigung. Beide bei Paris. Die Opfer waren junge Frauen. Die Vergewaltigung hat er gestanden, den Mordvorwurf weist er zurück. Die Fälle werden neu aufgerollt.
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