Psychiaterin im Interview«Emotionale Probleme lassen sich nicht mit dem Kopf lösen»
Unser Denkvermögen mache nur einen kleinen Teil der Psyche aus, sagt die 84-jährige Psychotherapeutin Monika Reller. Das Herz lasse sich besser durch die Körpersprache ergründen.
Frau Reller, Sie sind mit 84 Jahren noch immer als Psychotherapeutin tätig. Warum?
Weil ich die Menschen mag.
Alle Menschen?
Alle, die zu mir in die Therapie gekommen sind und bei denen ihr eigenes Naturell, also ihr ursprüngliches Wesen, zum Vorschein gekommen ist – ich mag sie alle.
Sie können doch die Menschen mögen und trotzdem Ihre Pensionierung geniessen, sich etwas zurücklehnen …
Zurücklehnen passt nicht zu mir.
Sie arbeiten mit dem Unbewussten, können Sie beschreiben, wie eine Therapiesitzung bei Ihnen aussieht?
Nein, das kann ich nicht. Denn jeder Mensch ist einzigartig. Nicht nur in seiner Veranlagung, sondern auch in seiner Lebensgeschichte. Darum verläuft auch jede Therapiestunde einzigartig.
Demnach müsste es acht Milliarden verschiedene psychische Strukturen geben. Wie erstellen Sie dann eine Diagnose für die Krankenkasse?
Wenn ich mich näher mit dem Leiden einer Patientin befasse und dann für den Bericht an die Krankenkasse einen Diagnosecode festlegen muss, dann bleibt bei mir immer ein ungutes Gefühl zurück. Denn jede psychiatrische Diagnose liegt etwas daneben, trifft nicht ganz auf meine Patientin zu. Es ist uns meist völlig verborgen, was in ihrem Unbewussten sie dazu zwingt, sich leidvoll durch den Alltag zu bewegen, immer wieder mit gleichen, meist ihr unbekannten Mustern ihr Leben zu beschweren. Ich bin mir bewusst, dass diese Sichtweise wohl nicht den gängigen Anschauungen der Psychiatrie entspricht.
Sie folgen also keiner Lehre oder bestimmten Theorie?
Nein, ich gehe davon aus, dass die meisten Menschen, die zu mir kommen, ursprünglich als gesunde Babys zur Welt gekommen sind. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber das Ziel in der Therapie ist, an dieses Ursprüngliche und Unverfälschte der Menschen heranzukommen.
Sie schreiben der Babyzeit und Kindheit eine enorme Bedeutung zu. Warum?
Nicht bei allen Patientinnen und Patienten. Aber ich arbeite viel mit Menschen, die Schwierigkeiten haben mit Beziehungen und in Partnerschaften. In diesen Fällen spielen die frühen Lebensjahre meistens eine wichtige Rolle. Denn alle mitmenschlichen Interaktionen während unserer Wachstumsphase, sofern sie eindringlich oder repetierend waren, hinterlassen in unserer Psyche Spuren.
«Ich bin kein Mensch, der sich die Dinge überlegt.»
Können Sie ein Beispiel machen?
Ich hatte eine Patientin, die sich immer wieder in Menschen mit einer Suchterkrankung verliebte. Sie wuchs mit einem alkoholsüchtigen Vater auf, und obwohl ihr dieser Zusammenhang rational bewusst war, konnte sie dieses Muster nicht ohne Hilfe durchbrechen. In der Therapie ging es darum, die Bindung zu den ungesunden Teilen des Vaters aufzulösen und loszulassen. Und nur die Bindung zu dem kleinen Buben, welcher der Vater einmal gewesen war und den sie ja auch in guten Momenten in ihm gespürt hatte, zu behalten.
Aber nicht alle Töchter von alkoholkranken Vätern teilen das gleiche Schicksal.
Richtig. Wie gesagt: Jeder Fall ist einzigartig und komplex.
Aber trotzdem denken Sie, dass Beziehungsprobleme im Erwachsenenalter immer mit dysfunktionalen Bindungen aus der Kindheit zu tun haben?
Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich denke. Denn ich bin kein Mensch, der sich die Dinge überlegt, ich funktioniere vor allem über meine Wahrnehmung. Ich kann Ihnen sagen, wie ich etwas wahrnehme.
Okay, wie nehmen Sie das also wahr?
Natürlich gibt es auch angeborene Störungen, zum Beispiel Autismus. Aber bei den allermeisten Patientinnen und Patienten mit Beziehungsproblemen nahm ich diesen Zusammenhang wahr: Etwas in ihrer Bindung wurde gestört, als sie noch klein waren, und das hat Auswirkungen auf ihre Beziehungsfähigkeit als Erwachsene.
Das zu verstehen, reicht aber nicht.
Wir bilden uns viel ein auf unser Denkvermögen und unsere Intelligenz. Aber das ist nur ein kleiner Teil unserer Psyche. Das Allermeiste im zwischenmenschlichen Bereich verläuft automatisch, unwillkürlich, ohne unsere Absicht. Und doch sind wir es ja selbst, die handeln und kommunizieren. Wir tun das gemäss den Mustern, die wir in unserer frühen Kindheit entwickelt haben. Und rational können Sie kein einziges Kleinkindproblem lösen, Babyprobleme schon gar nicht, denn an diese Schichten kommt man mit dem Intellekt nicht heran. Oder anders gesagt: Emotionale Probleme lassen sich nicht mit dem Kopf lösen. Sie sind eine Herzensangelegenheit. Und das Herz spricht nicht die Sprache der Logik.
Sondern?
Die unbewusste Körpersprache. Das, was spürbar ist: ein Gesichtsausdruck, ein Seufzer, ein Blick, Tränen in den Augen, der Atem. Der Ton der Stimme erzählt mir viel mehr über einen Patienten als seine Konzepte zu einem Thema. Die unbewusste Körpersprache ist eine Sprache, die jedes kleine Kind versteht. Übrigens auch jeder Hund. Ein Hund merkt, wenn Sie Angst haben. Auch wenn Sie versuchen, Ihre Angst zu verstecken oder Sie es vielleicht nicht einmal selber merken, der Hund spürt das. Dass diese unbewusste Körpersprache auch im Unbewussten unserer Mitmenschen automatisch etwas bewirkt, haben viele Psychiaterinnen und Psychologen nicht verstanden.
Wie meinen Sie das?
Viele Psychiater und Psychologen möchten seelische Probleme über die Gedanken lösen. Es fällt ihnen oft schwer, sich einzugestehen, dass unsere Patienten ja selbst genauso intelligente Wesen sind wie wir Fachleute. Und wir wissen über das Leben unserer Patienten nicht wirklich Bescheid. Nur sie selbst wissen, wie genau ihr Alltag verläuft, und nur sie werden Zugang gewinnen zu den belastenden Erinnerungen und Erfahrungen, welche in ihrem Inneren schlummern und sie in ihrem Leben hindern. Die Lösung muss von den Patienten selber kommen. Ich bin nur der Mitmensch, der ihnen dabei zur Seite steht und hilft.
Sie arbeiten seit 40 Jahren als Psychiaterin und haben die verschiedensten Menschen mit ihren Nöten kennen gelernt. Können Sie Gemeinsamkeiten erkennen?
Es gibt grundlegende menschliche Bedürfnisse, die allen gemein sind. Zum Beispiel geliebt zu werden und zu lieben. Oder gesehen zu werden als der Mensch, der man ist. Zu Beginn einer Therapie haben die Allermeisten Angst, dass ich sie beurteilen oder kritisieren könnte oder dass sie von Schmerz überwältigt würden. Angst führt dazu, dass der Zugang zu den inneren Ressourcen versperrt wird. Wenn meine Mitmenschen dann aber merken, dass ich sie nicht beurteile, dann wird eine Zusammenarbeit möglich.
Wie gehen Sie vor?
Wenn wir Therapeuten unseren Patienten helfen wollen, dann müssen wir den irrationalen Kosmos ihrer Gefühlswelt miteinander betreten. Ihr «Gärtlein der unbewussten emotionalen Fähigkeiten» müssen wir dann in gemeinsamer Arbeit giessen, düngen und jäten.
Wir sind für dieses Gespräch im Wald unterwegs. Sie sagen, Sie fühlen sich hier zu Hause. Warum?
Das hat mit meiner Lebensgeschichte zu tun. Ich hatte kein Zuhause, ich könnte gar nicht aufzählen, an wie vielen Orten ich schon gewohnt habe. Als Siebenjährige kam ich aus Berlin in die Schweiz für drei Jahre in ein Kinderheim in einem Bergdorf. Ich galt als «Sauschwab», und niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Kein Kind sprach mit mir. Das war grausam. So verbrachte ich viel Zeit alleine draussen mit den Bäumen und Blumen, sie waren meine «Mitwesen», sie standen mir bei. Und noch heute fühle ich mich in der Natur aufgehoben.
Die Bäume als Freunde, ist das nicht etwas esoterisch?
Jeder darf davon halten, was er möchte. Persönlich mag ich die Esoteriker nicht besonders. Mir scheint, sie stehen mit den Füssen nicht ganz auf der Erde. Ein Esoteriker glaubt zu wissen, was dem anderen hilft. Das ist bei mir ganz anders, ich weiss es nicht, ich kann nur das Innere meiner Patientinnen und Patienten befragen.
«Man kann das, was nicht gedeihen konnte, zum Gedeihen bringen.»
Wie machen Sie das?
Hilfreich können zum Beispiel Erinnerungen an bestimmte Orte oder Ereignisse sein. Als hilfreich erweisen sich aber auch die angeborenen Ressourcen, die im Unbewussten schlummern und sich nicht entfalten konnten. Diese Ressourcen wollen wir nachentwickeln. Meine Aufgabe ist es, meine Mitmenschen zu fragen: «Was in den Tiefen Ihres Inneren könnte Ihnen da weiterhelfen?»
Sie haben den Zweiten Weltkrieg als Kind in Berlin miterlebt, bevor Sie in die Schweiz kamen.
Mein Schulweg war eine Ausfallstrasse gegen Westen, bei Fliegeralarm war die Schule aus. Und damals – das wissen heute nicht mehr viele – flogen Geschwader von Tieffliegern vor den Bombern her über diese Strasse und schossen auf alles, was sich bewegte. Und ich bin gerannt, gerannt, gerannt. Daheim bin ich dann in den Bunker gekrochen.
Wie hat Sie das geprägt?
Ich lernte, dass ich mich selbst retten muss. Das Schlimmste war aber nicht, dass ich beschossen wurde und um mein Leben rannte, sondern dass mich zu Hause niemand in die Arme nahm.
Ist es möglich, Schreckliches aus der Kindheit zu überschreiben?
Die eigene Kindheit kann man nicht überschreiben. Aber man kann das, was nicht gedeihen konnte, zum Gedeihen bringen. So wie man in der Wüste anfangen kann, Bäume zu pflanzen, kann man im Innern etwas wachsen lassen.
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