Eisklettern in PontresinaDie Steigeisen bohren sich ins Eis, die Nerven flattern
Auch für Einsteiger ist Pontresina der Hotspot fürs Eisklettern – und bietet sogar einen Klettersteig durch die eisige Wildwasserschlucht.

- In Pontresina kann man im Winter nicht nur langlaufen, sondern in der Wildwasserschlucht der Ova da Bernina auch wunderbar eisklettern.
- Mit dem rauschenden Wasser und dem Lichtspiel drumherum wird das sportliche Abenteuer zum Vergnügen.
- Ein Einsteigerkurs oder die Begleitung durch einen Bergführer wird interessierten Anfängern dringendst empfohlen.
Der Steg, den man quert, ist kaum breiter als ein Schuh. In zehn Metern Tiefe klatscht das Wasser gegen Steine und Felsen. Links und rechts wachsen eisbepackte Wände in die Höhe. Wo sie enden, beginnt Pontresina GR. Wir sind mitten im Dorf und doch in einer anderen Welt.
Die Ova da Bernina ist eine durch den Ort rauschende Wildwasserschlucht und gleichzeitig ein Spielplatz für abenteuerlustige Touristen. Ein Winterklettersteig folgt dem Flusslauf. Wenn die Wand zu steil wird, um sie entlangzuschreiten, muss man die Seite wechseln. Schmale Brücken und Leitern helfen beim Queren, beim Auf und Ab. Gelegentlich braucht es auch einen Pickel, um Stufen in den blau schimmernden Eispanzer zu schlagen, der vom Fluss nach oben wächst. Das eisige Vergnügen heisst offiziell Winter-Canyoning. Anders als bei der sommerlichen Variante geht es aber darum, mit trockenen Füssen durchzukommen.
An manchen Stellen gelingt das nur, wenn man über die Ova fliegt. Dann ist ein Seil in Fliessrichtung gespannt, der Wintersportler hängt sich mit einer Rolle ein, die mit dem Klettergurt verbunden ist. Abstossen, Füsse hoch, fünf Sekunden schweben. Das sind die kurzen Momente, in denen man die Schlucht in vollen Zügen geniessen kann.

Das rauschende Wasser schluckt alle anderen Geräusche, die Sonne spiegelt sich am eisigen Felsen, grosse Steine im Flussbett versuchen das Wasser aufzuhalten. Vergeblich. Man braucht Kraft, Geschick und Mut, um die Schlucht zu meistern. Aber als Belohnung gibt es nicht nur ein Naturspektakel, sondern eine Auszeit für Geist und Seele. Man ist so beschäftigt mit sich selbst, mit den Naturgewalten und der Kletterei, dass die Probleme, die Sorgen und Nöte des Alltags so schnell fortrauschen wie das Wasser unter den Füssen.
Nach einer guten Stunde betritt man ein naturgewaltiges Areal. Das Flussbett weitet sich, die Wände weichen zurück und geben den Platz frei für eine grosse Arena. Oben, auf den Brücken, Stegen und Aussichtspunkten entlang der Schlucht, stehen Schaulustige und staunen über die Wagemutigen, die an mächtigen Eisfällen emporklettern. Hier schlägt das eisige Herz von Pontresina.

Unser Herz pocht auch immer schneller. Der Klettersteig ist bezwungen, aber die nächste Herausforderung ist ein mächtiger, 30 Meter langer Eiszapfen. Wir wissen, dass er heute noch auf unserem Plan steht. Was wir nicht ahnen: Wir werden abstürzen. Scheitern. Ob wir Kraft und Mut haben, den Eiszapfen ein zweites Mal in Angriff zu nehmen?
Jetzt aber erst einmal eine Runde Erholung. Ein Spaziergang durch Pontresina ist eine kleine Zeitreise. Die älteste Kirche stammt aus dem 12. Jahrhundert. Mittelalterliche Mauern lehnen sich an Engadiner Häuser, die sich mit Erkern und den unvergleichlichen Sgraffito-Malereien schmücken.
Jahrhunderte alte Palazzi zeugen vom Einfluss der Italiener. Wach geküsst wurde der Ort im 19. Jahrhundert von den Briten, die kamen, um die Bergwelt zu erobern. Seither zählt Pontresina zu den Hotspots der Schweizer Alpenwelt. Die anfangs einfachen Herbergen verwandelten sich in Luxushotels, allen voran das Grand Hotel Kronenhof.
Die Lage am Berninapass, mit Piz Palü und Piz Bernina vor der Haustür, beschert dem Ort auch heute noch Gäste mit hohen bergsteigerischen Ambitionen. Früher konnte man es nur im Sommer auf 1805 Metern über Meer aushalten, doch heutzutage lässt sich die Winterkälte spielend wegheizen. Davon profitiert auch die Bergsteigerschule Pontresina, die älteste und grösste in Graubünden. Der Chef heisst Gian Luck, ein 42-jähriger Familienvater mit Vollbart und wirren Haaren, die ihm immer wieder in die Stirn fallen, wenn er keinen Kletterhelm aufhat. Er zählt zur jungen Generation Bergführer, die frischen Wind nach Pontresina brachten.

Sie erkannten das Potenzial der Ova-Schlucht, pickelten sich die Eiszapfen hoch und beschlossen, daraus ein Angebot für Touristen zu machen. Um auf Nummer sicher zu gehen, hängten die Bergführer meterlange, angepiekste Wasserschläuche in die Schlucht, damit die Eiszapfen richtig wachsen konnten. Weil die Leitungen aber häufig einfroren, haben Gian Luck und seine Kollegen das System zwischenzeitlich optimiert, lassen das Wasser vom Rand der Schlucht nach unten rinnen.
Auf diese Weise haben die Bergführer um Gian in der Arena fünf Spots, fünf Eisfälle, kreiert. Wir stehen nun an einer dieser Wände, die einen meterdicken Eispanzer trägt. Um unsere Schuhe haben wir Steigeisen geschnallt, auf dem Kopf sitzt ein Helm, in der Hand halten wir zwei Pickel. Sie sehen so zahm aus wie Seepferdchen, den Kopf mit der langen Nase nach unten geneigt; sie haben allerdings scharfe Zacken, die das Eis wegsprengen können. Doch es geht vielmehr darum, sich mit Gefühl nach oben zu arbeiten.

«Gefragt ist keine rohe Gewalt, sondern ein Auge dafür, wo man den Pickel einschlägt», ruft Gian, der uns vom Boden aus sichert, wie es auch beim Felsklettern üblich ist. Es gibt Löcher im Eis, die andere schon geschlagen haben, in die man sich mehr oder weniger einhängen kann. Schliesslich sind Eisfälle nicht immer senkrecht. Sehr willkommen sind Tritte und Stufen, auf denen man sich auch mal ausruhen darf.
Dennoch ist das Klettern sehr anstrengend. Die Arme senkrecht nach oben gereckt, die Steigeisen fest ins Eis gebohrt, gelingen die ersten Meter. Wir lassen uns kurz in den Bauchgurt fallen, um durchzuatmen. Der erste Absatz ist überwunden, weiter gehts senkrecht. Die Nerven flattern, die Arme zittern, die Seepferdchen finden keinen Halt mehr.
Noch bevor ich den Ruf nach einer Pause über die Lippen bringen, falle ich zusammen wie ein Sack Kartoffeln. Klar, Gian fängt den Sturz sofort auf. Aber ich habe für eine Sekunde jegliche Körperspannung verloren, bin mit dem Rücken gegen das Eis gekracht und japse nach Luft. Der Puls rast, im Schädel macht sich sofort ein hämmerndes Kopfweh breit.

Trotz allem kommt ein Rückzug für mich nicht infrage. Ich bin angefixt und will mehr. Das hängt auch damit zusammen, dass man als Anfänger ruck, zuck erste Erfolge verbucht. «Eisklettern ist sehr gut trainierbar, man hat schnelle Erfolge. Man muss weniger tänzerisch, spielerisch vorgehen als beim Felsklettern, sondern arbeiten», erklärt Silvan Schüpbach, Fachleiter Leistungsbergsteigen und Ice-Climbing beim Schweizer Alpen-Club. Er rät Neulingen in jedem Fall zu einem Bergführer und einem Einsteigerkurs. Wer auf eigene Faust losziehe, müsse in der Lage sein, das Gelände mit seinen alpinen Gefahren und den Eisfall einzuschätzen.
«Alles, was hängt, kann auch fallen», ruft Bergführer Gian und räumt deswegen kleinere Eiszapfen mit seinem Seepferdchen ab. Als ich wieder in den Eisfall einsteige, geht die Sache schon flüssiger. 10, 15 Meter sind jetzt drin. Es ist erstaunlich, aber während ich klettere, ist die Angst, noch mal gegen den Felsen zu klatschen, verflogen. Ich komme in eine Art Flow, blende alles andere aus. Die Einzigen, auf die ich jetzt noch höre, sind die beiden Seepferdchen. Diesmal dauert es lange, bis sie die Köpfchen schütteln. Wir wären fast oben gewesen. Gian lobt: «Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.»
Wie komme ich hin? Ab Zürich mit der Bahn in gut drei Stunden nach Pontresina; ein Umstieg in Chur. sbb.ch
Wo übernachte ich? Hotel Rosatsch: zentral gelegen, Fokus auf Genuss. 3 Restaurants zur Wahl. Sporthotel Pontresina: viele Annehmlichkeiten für sportliche Gäste, u. a. Early-Bird-Frühstück, Tourentee oder Lunchpakete.
Eisklettern ausprobieren? Ein halbtägiger Schnupperkurs im Eisklettern kostet ab 125 Franken pro Person (3 bis 6 Teilnehmer). Ein Technikkurs (1 Tag) ab 220 Franken (3 bis 5 Teilnehmer). Zweitägige Kurse ab 500 Franken. Material und steigeisenfeste Schuhe können geliehen werden. Geführter Winterklettersteig ab 95 Franken (halber Tag), Material inklusive. bergsteiger-pontresina.ch
Die Reise wurde unterstützt von Pontresina Tourismus.
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