Armut in GrossbritannienEin junger Fussballstar landet einen Treffer gegen Boris Johnson
Der englische Nationalspieler Marcus Rashford hat die Regierung dazu gebracht, weiter Essensgutscheine für bedürftige Kinder auszustellen.
Mit «Parteipolitik» habe sein Einsatz nichts zu tun. Es sei einfach «eine Frage der Menschlichkeit», sagte Marcus Rashford. Aber der Appell, den der Manchester-United-Fussballer und englische Nationalstürmer an Grossbritanniens Regierungspartei richtete, erwies sich in seiner Menschlichkeit als hochexplosiv. Rashford forderte im Grunde Premierminister Boris Johnson heraus. Er trat an gegen dessen jüngste Entscheidung, während der kommenden Sommerferien keine Essensgutscheine mehr für englische Schulkinder auszustellen.
Dieser Regierungsbeschluss hatte schon in den letzten Tagen Unruhe ausgelöst. Doch erst ein offener Brief des prominenten Fussballers an die Verantwortlichen im Lande machte die Sache zu einem heissen Thema. Am Dienstagmorgen griff die gesamte britische Presse Rashfords Appell auf. Die Labour-Opposition zettelte noch für denselben Tag eine Unterhausdebatte zu dieser Frage an. Tory-Abgeordnete sahen sich vor die Frage gestellt, ob sie denn wollen, dass englische Kinder hungern, solange die Schultore geschlossen bleiben und es für die Ärmsten kein freies Schulessen gibt.
Über eine Million Kinder auf Gratisessen angewiesen
In der Tat hatte die Regierung in den letzten zwölf Wochen noch Gratisgutscheine für bedürftige Kinder ausgegeben, mit denen Eltern in bestimmten Läden zusätzliche Lebensmittel kaufen konnten. Umgerechnet knapp 18 Franken pro Kind und Woche wurden dabei bewilligt. 1,3 Millionen Kinder aus den einkommensschwächsten Familien erhalten normalerweise Gratisessen im englischen Ganztagsschulbetrieb.
Vom Anfang der Sommerferien an aber wollte die Regierung die Essensgutscheine einstellen. Weiterhin laufende Subventionen für die Gemeinden, hiess es im Schulministerium, reichten voll aus. Gegen diese Entscheidung war Rashford Sturm gelaufen. Nicht um den üblichen Parteienzank in Westminster dürfe es hier gehen, fand er: «Können wir uns nicht alle darauf einigen, dass kein Kind hungrig zu Bett gehen soll?»
Dass arme Familien in England kein Geld hätten, um sich ausreichend zu versorgen, sei schon vor der Krise ein riesiges Problem gewesen, meinte Rashford. Diese Situation könne «nur schlimmer werden», wenn die staatlichen Covid-Hilfsaktionen demnächst eingestellt würden. Schon in den letzten Monaten «hätte man das Wembley-Stadion zweimal füllen können mit Kindern, die auf Mahlzeiten verzichten mussten, weil ihre Familien im Lockdown nicht für genug Essen sorgen konnten». Er frage sich, ob diese Kinder «mit ihren knurrenden Mägen» eines Tages wohl je stolz genug auf ihr Land wären, um sich ein Nationaltrikot überzustreifen oder die Nationalhymne anzustimmen.
Er weiss, was es bedeutet, hungrig zu sein
«Vor zehn Jahren hätte ich selbst eins dieser Kinder sein können», erklärte der 22-jährige Fussballer, der in armen Verhältnissen in Manchester aufwuchs. Seine Mutter, die ganztags für minimalen Lohn arbeitete, habe alles getan, was sie konnte, um ihren fünf Kindern jeden Abend eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu stellen. «Aber auch das war nicht genug. Als Familie waren wir angewiesen auf Frühstücksclubs, freie Schulmahlzeiten und wohltätige Nachbarn und Trainer. Suppenküchen und städtische Essensausgaben waren uns nicht fremd.»
Rashford hat jene Jahre nicht vergessen. Den Premierminister forderte er auf, «das Richtige zu tun». Im Laufe des Dienstag zeigte sein Appell Wirkung. Etliche Tory-Abgeordnete, wie der Vorsitzende des Bildungsausschusses im Unterhaus, Robert Halfon, fanden, dass es zweifellos «das Richtige» wäre, die Essensgutscheine weiter auszugeben.
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Und als klar war, dass die Regierung bei der für den Abend geplanten Parlamentsabstimmung eine böse Niederlage erleiden würde, akzeptierte auch Boris Johnson, dass der Treffer im Netz sass. Plötzlich fand der Premier 140 Millionen Franken extra, um die Gutscheinausgabe auch für die Dauer der Sommerferien sicherzustellen. Dies sei ebenfalls «England 2020», freute sich Marcus Rashford. «Das können wir erreichen, wenn wir zusammenstehen.»
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