Analyse zu den Brexit-VerhandlungenBoris Johnson ist wieder ganz der Alte
Der britische Regierungschef zeigt mehr Interesse an einem harten Brexit als an Rücksichtnahme auf die fatale Lage im eigenen Land. Heute verhandelt er mit der EU.
Als die Corona-Krise über Grossbritannien hereinbrach, glaubten viele Briten noch, dass Boris Johnsons Regierung ihre harte Linie bei den Verhandlungen mit der EU über neue Handelsbeziehungen aufgeben würde. Sie würde sich erst einmal mehr Zeit für Gespräche lassen, so die Hoffnung. Immerhin nahm die Seuchenbekämpfung alle Welt voll in Anspruch. Und wer wollte sich zusätzliche Probleme schaffen – zumal in einem Staat, der seither den traurigen Rekord an Corona-Opfern in Europa hält?
Wer aber mit einer solchen Kurskorrektur gerechnet hatte, sah sich getäuscht. Inzwischen steht fest, dass London keine Verlängerung der Brexit-Übergangsphase beantragen möchte. Diese Übergangsphase läuft noch bis zum Jahresende. In ihr hält sich das Vereinigte Königreich de facto weiter an die Regeln des Binnenmarkts und der Zollunion der EU, weshalb es unter anderem keine Probleme mit Warenflüssen gibt.
Zwei Jahre extra hätte Johnson sich jetzt im Juni erkaufen können, um seinem Land diesen Status reibungslosen Handels über das Jahresende hinaus zu erhalten. Selbst überzeugte Brexit-Befürworter begrüssten dies. Letzten Umfragen zufolge plädieren inzwischen zwei Drittel aller Briten, denen die Folgen eines möglichen Scheiterns der Verhandlungen bewusst sind, für zeitlichen Aufschub. 95 Prozent drängen die Regierung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie sowieso zu enger Zusammenarbeit mit Europa.
Das Kabinett macht Druck
Stattdessen stellte die britische Regierung schon vor dem virtuellen Gipfel des Premierministers und seines Brexit-Operationschefs Michael Gove mit den drei Top-Repräsentanten der EU klar, dass sie eine Verlängerung der Übergangsfrist ablehnt. Noch immer fixiert auf die innenpolitischen Kämpfe der letzten vier Jahre, glaubt Boris Johnson seinen Brexiteers keine Lösung «verkaufen» zu können, bei der sich London zwei weitere Jahre lang an EU-Regeln halten und in die EU-Kasse einzahlen würde.
Vor den Wahlen im letzten Dezember hatte er schliesslich gelobt, dass er den Brexit unverzüglich «über die Bühne bringen» werde, damit Grossbritannien endlich wieder «eine souveräne Nation» sein könne. Und die Brexit-Hardliner, mit denen er sich im Kabinett umgeben hat, wollen dieses Versprechen nun eingelöst sehen. Auch um den Preis, dass die Verhandlungen in den wenigen verbleibenden Monaten noch scheitern – und sei es mitten in der schwersten Wirtschaftskrise, die ihr Land seit 300 Jahren erlebt.
Johnson nimmt einen «No Deal»-Brexit in Kauf
In der Tat wird die strikte Weigerung Londons in Sachen Aufschub weithin als Signal dafür gedeutet, dass Johnson erneut einen vertragslosen Abgang – einen «No Deal» – in Kauf nimmt und womöglich stracks darauf zusteuert. Dabei fehlt es nicht an Warnungen vor einer solchen Radikalabkoppelung in der gegenwärtigen Situation.
Der Britische Industriellenverband hat erklärt, die Unternehmen des Landes hätten wegen des Coronavirus «so gut wie keine Kraft» mehr, um auch noch mit einem chaotischen Austritt aus der EU fertig zu werden. Und der IWF hat prophezeit, dass bei einem «No Deal»-Brexit den Briten zusätzlich zum erwarteten kolossalen Corona-Wirtschaftseinbruch eine «permanente» Verminderung der Wirtschaftskraft um 5 Prozent drohe.
Die Regierung bereitet sich auf die Klippe vor
Es ist bemerkenswert, wie unbeirrt Boris Johnson an einer inzwischen schon antiquiert anmutenden Position trotzigen nationalen Alleingangs festhält. Für möglich halten Beobachter in London, dass der Premier glaubt, seine «lieben Freunde» auf dem Kontinent durch eine kompromisslose Linie noch zum Einlenken bewegen und so einen für London vorteilhaften Handelsdeal – mit beträchtlichen Privilegien, aber ohne grössere Verpflichtungen – erzielen zu können.
Ausgeschlossen ist eine Einigung in letzter Minute natürlich nicht. Johnson selbst ist ja für Hakenschläge bekannt. Aber alle Zeichen weisen eher darauf hin, dass sich seine Regierung auf die Klippe vorbereitet. Dass ihr eine klare ideologische Linie im Sinn der Tory-Rechten wichtiger ist als eine pragmatische Reaktion auf die fatale Lage im eigenen Land.
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