Leitartikel zum Gipfel Biden/PutinEin Gespräch unter Erwachsenen ohne Armdrücken
Der amerikanische und der russische Präsident werden keine Freunde mehr, aber der gegenseitige Respekt ist da. Das kann hilfreich sein, sollte die Krise zwischen Russland und den USA eskalieren.

Freundschaften sind selten, und sie brauchen Zeit, um zu entstehen. Das gilt generell – insbesondere in der Politik und selbst in Hollywood. Im Film «Casablanca», dem Klassiker aus dem Jahr 1942, sagt Humphrey Bogart alias Rick am Ende zu Polizeihauptmann Renault: «Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.» Zuvor hatten sich die beiden einen Film lang belauert und gegenseitig in Schach gehalten, um ja keinen Vorteil preiszugeben: hier der Amerikaner Rick, Nachtclub-Besitzer, Trinker und Zyniker. Dort der Franzose Louis, Beamter des Vichy-Regimes, Spieler und Opportunist. Erst in der berühmten Schlussszene auf dem Flugfeld von Casablanca besinnen sie sich ihrer verschütteten Haltung gegen die Nazis und schliessen Freundschaft.
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Auch Joe Biden und Wladimir Putin kennen sich schon lange. Aber sie seien «keine alten Freunde», wie der US-Präsident nach dem Genfer Gipfel klarstellte. Der russische Präsident zerstreute ebenfalls allfällige Illusionen: «Diese Beziehungen beruhen immer auf Pragmatismus.» So versprach man sich «keine ewige Liebe», wie Putin sagte. Biden sah es ähnlich, es habe keinen «Kumbaya-Moment» gegeben, was in den 1960er-Jahren in den USA so viel bedeutete wie: «Lasst uns einander umarmen und lieben.» Ohne ihn zu erwähnen, hielten sich beide Präsidenten an Charles de Gaulles Sicht: «Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.»
Weit wichtiger war, dass beide Staatschefs die konstruktive Atmosphäre in der Villa La Grange lobten.
Gleichzeitig aber, und das ist weit wichtiger, lobten beide Staatschefs die konstruktive Atmosphäre in der Villa La Grange. Auf den Hickhack vor dem Gipfel, als Biden Putin als «Killer» bezeichnet hatte, worauf dieser wiederum dem 78-jährigen US-Präsidenten maliziös «gute Gesundheit» wünschte, gingen die beiden nicht mehr gross ein. Vielmehr berichtete Putin, dass ihn Biden nach dem «Killer-Interview» angerufen habe – die Sache sei geklärt. Er verglich den US-Präsidenten sogar vorteilhaft mit dessen Vorgänger: «Präsident Biden ist ein erfahrener Staatsmann. Er ist ganz anders als Präsident Trump.» Eine Äusserung, die in Mar-a-Lago beim grössten amerikanischen Putin-Fan kaum gut ankam.
Was für ein Unterschied zum Gipfel 2018 in Helsinki, als der russische Präsident den amerikanischen vorgeführt hatte.
In Genf haben sich zwei Gegner an einen Tisch gesetzt – nicht zum rhetorischen Armdrücken, sondern zum Gespräch. Trotz aller Differenzen war der gegenseitige Respekt spürbar. Was für ein Unterschied zum Gipfel 2018 in Helsinki, als der russische Präsident den amerikanischen vorgeführt hatte. Auch mussten sich Biden und Putin gegenseitig nichts vormachen, fast so wie Rick und Louis auf der Kinoleinwand: Der US-Präsident hat jahrzehntelange Erfahrung in der Aussenpolitik und bereiste als Vizepräsident und Senator die Welt. Und für Putin ist Biden bereits der fünfte US-Präsident, mit dem er es zu tun hat. Was zeigt, dass Erfahrung und Nüchternheit unterschätzte Tugenden sind in der Politik. Zwar hat Genf keinen Durchbruch gebracht, zumindest jedoch werden wieder Botschafter ausgetauscht, auch will man über Hackerangriffe und die Nuklearwaffen reden. Das sind kleine Schritte, aber sie gehen in die richtige Richtung.

Kann sich zwischen Biden und Putin ein gewisses Vertrauensverhältnis herausbilden, wird die Welt sicherer. Als sich John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow 1961 trafen, hätten sie davon nicht weiter entfernt sein können: Nach dem Gipfel in Wien eskalierte der Kalte Krieg, zunächst in Berlin, wo die Mauer gebaut wurde, wenig später kam es zur Kubakrise. Es drohte ein Atomkrieg. Derart unter Druck, begannen die beiden Staatschefs einen streng geheimen persönlichen Briefwechsel, worin sie sich gegenseitig eingestanden, dass sie unbedingt einen nuklearen Schlagabtausch vermeiden wollten. Nur eine Handvoll Berater war eingeweiht. Dieser vertrauliche Kanal half mehrmals, weitere Krisen zu vermeiden.
Eine Mann-zu-Mann-Beziehung mit Fokus auf die gemeinsamen Interessen scheint möglich.
Ronald Reagan und Michail Gorbatschow wiederum schufen bei ihrem mehrtägigen Genfer Treffen 1985 die Basis für das Vertrauensverhältnis, das es später ermöglichte, den Kalten Krieg ohne grossen Knall zu beenden. So weit können Putin und Biden nach nur dreieinhalb Stunden Gespräch gar nicht sein. Ein Anfang aber ist gemacht. «Es gibt keinen Ersatz für ein persönliches Gespräch zwischen Führungskräften. Keinen», betonte Biden nach dem Gipfel. Tatsächlich ermöglicht erst die direkte Begegnung, Ressentiments zu relativieren, die sich über längere Zeit aufgebaut haben.

Freunde wie Rick und Louis, die am Ende des Films in der Nacht von Casablanca verschwinden, werden Biden und Putin kaum mehr. Aber eine sachliche und respektvolle Beziehung mit Fokus auf die gemeinsamen Interessen scheint möglich. Das Symbol dafür lieferte eines der letzten Bilder vom Gipfel mit den beiden Präsidentenmaschinen. Beinahe einträchtig standen die Air Force One und die Iljuschin Il-96 nebeneinander auf dem Rollfeld des Genfer Flughafens. Kurz darauf hoben sie ab, in dieselbe Richtung, und verschwanden im prächtigen Genfer Abendhimmel.
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