Daten zur indischen MutationDiese Zahlen aus Indien stimmen zuversichtlich
Über 300’000 neue Fälle pro Tag, und jetzt nimmt die Verbreitung der Variante B.1.617 auch in anderen Ländern zu. Trotzdem gibt es Grund für Optimismus.
Die Eskalation der Corona-Pandemie in Indien hat der Welt nochmals vor Augen geführt, wie übel es enden kann, wenn exponentielles Wachstum der Fallzahlen ohne Gegenmassnahmen zugelassen wird: Über 300’000 Neuinfektionen pro Tag, überlastete Spitäler verriegelten ihre Tore, der medizinische Sauerstoff ging aus, Menschen starben auf der Strasse, die Krematorien mussten völlig überfordert auf Felder und Parkplätze verlagert werden. Mit den schlimmen Bildern kam auch immer der Hinweis, dass die indische Variante B.1.617 das Elend wohl angefacht habe.
Ist die Mutation das nächste Übel, das die Welt überrollt? Aus Indien gibt es viele Medienberichte dieser Art: Die Variante sei für Junge gefährlicher und verursache mehr Todesfälle, sie überwinde das Immunsystem und mache die Impfung nutzlos. Aktuelle Zahlen zur Pandemie in Indien zeichnen allerdings ein anderes Bild – auch wenn das die Lage vor Ort nicht weniger miserabel macht.
Ist die Variante für Junge gefährlicher?
Gemäss der indischen Covid-Taskforce ist das nicht der Fall. Indien hat eine relativ junge Bevölkerung, und deshalb waren bereits in der ersten Welle 31 Prozent der Erkrankten unter 30 Jahre alt. Mit B.1.617 sind es jetzt in der zweiten Welle 32 Prozent, die Mutation hat für die Jungen also praktisch nichts geändert.
Das gilt auch für die nächste Altersklasse der 30- bis 45-Jährigen, die in der ersten Welle 21 Prozent der Patientinnen und Patienten ausmachten. Der Anteil ist jetzt noch immer exakt gleich. Und bei den Todesfällen sieht es für die Jüngeren sogar marginal besser aus. Letztes Jahr waren 20 Prozent der Covid-Todesfälle Personen unter 50 Jahren, nun sind es noch 19 Prozent.
Wirkt die Impfung noch?
Die Kurzantwort ist: Ja. Sogar erstaunlich gut, wenn man sich die in Indien eingesetzten Impfstoffe ansieht. Hauptsächlich verimpft wurde bisher Covishield, bei uns als AstraZeneca bekannt. Davon wurden bis Ende April rund 130 Millionen Dosen verabreicht. Von den 100 Millionen Personen, die erst eine Spritze erhielten, erkrankten 17’145 an Covid-19, das sind 0,02 Prozent. Bei den 15 Millionen doppelt Geimpften waren es 5014 Infizierte, also 0,03 Prozent.
Ebenfalls in Gebrauch ist der indische Impfstoff Covaxin. Von diesem haben 9,3 Millionen Personen die erste Dosis erhalten und 4208 erkrankten danach trotzem noch – knapp 0,05 Prozent. Bei den 1,7 Millionen doppelt Geimpften waren 695 später trotzdem positiv, das entspricht 0,04 Prozent.
Die beiden bisher in Indien eingesetzten Mittel sind gemäss den Studienresultaten aus den Testphasen weit weniger effektiv als beispielsweise Biontech/Pfizer oder Moderna, die in der Schweiz zugelassenen und angewendeten Impfstoffe. Dass sie offenbar trotzdem über 99,9 Prozent der Geimpften vor einer Ansteckung schützen, wie dies das Indian Council of Medical Research (ICMR) berichtet, ist eine sehr gute Nachricht.
Kommt dazu, dass in Indien bisher vor allem die Ältesten und das Gesundheitspersonal geimpft wurden. Trotz einfacher oder doppelter Dosis infiziert hat sich gemäss dem Direktor des ICMR vor allem das Gesundheitspersonal an vorderster Front. Sie seien dem Virus damit auch stärker ausgesetzt. Die Ansteckungszahlen lassen darauf schliessen, dass die Impfungen auch gegen die indische Variante wirken.
Geimpfte müssen zudem nur mit einem milden Verlauf rechnen, wie Anurag Agrawal vom Institut für Genomik und Integrative Biologie sagt. Das gehe aus einer noch nicht veröffentlichten Studie hervor, weitere Daten sollen demnächst veröffentlicht werden.
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Steckt die Mutation hinter der Eskalation?
Die indische Variante B.1.617 tauchte auf, und dann schoss die zweite Welle in die Höhe. Ein Zusammenhang erscheint mit diesem zeitlichen Ablauf naheliegend. Diese logische Erklärung kann, muss aber nicht unbedingt zutreffen. Was wirklich zur Eskalation führte, wissen die Expertinnen und Experten noch nicht definitiv, denn nur ein kleiner Teil der positiven Patientenproben werden in Indien genauer untersucht. Die Ergebnisse aus den wenigen Genomsequenzen können deshalb nicht auf das Pandemiegeschehen im Land abgeleitet werden. Es gibt allerdings Teilauswertungen aus Regionen, die auf eine starke Dominanz der indischen Mutation hindeuten.
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Die britische Variante B.1.1.7 ist in Indien ebenfalls verbreitet und könnte den starken Anstieg angefacht haben. Der deutsche Experte Christian Drosten hält die indische Mutation derzeit aber für nicht gefährlicher als andere bekannte, sogenannt besorgniserregende Virusversionen.
Zum steilen Anstieg der Neuinfektionen beigetragen haben wohl auch andere Faktoren. So nahm die Regierung das Virus nicht genug ernst und erliess zu wenig Massnahmen. Gleichzeitig veranstaltete sie riesige politische Kundgebungen, und es fanden religiöse Feste mit Menschenmassen statt – oft ohne Masken und Abstand. Diese Ereignisse von März bis Mitte April könnten den Grundstein für ein exponentielles Wachstum gelegt haben, das mit allen bekannten Varianten ausser Kontrolle geraten wäre.
Was passiert in Grossbritannien?
Eine Mathematikprofessorin am University College London untersucht die Varianten in England und hat festgestellt, dass sich neben der britischen nun vor allem die indische Mutation ausbreitet. Christina Pagel macht in gewissen Gebieten im Süden und Südwesten oder im Grossraum London schon fünf bis zehn Prozent der Neuinfektionen aus. B.1.617 hat damit P.1 (Brasilien) oder B.137 (Südafrika) innert Kürze nicht nur überholt, sondern kann sich als erste Mutation neben der britischen Variante weiterverbreiten.
In Grossbritannien erwartet man deshalb gespannt die Ergebnisse der nächsten Genomsequenzierungen, um zu sehen, ob sich B.1.617 weiter ausbreiten und die britische Mutation verdrängen kann. Die von Pagel verwendeten Daten stammen nur von lokalen Fällen, Infektionen von Einreisenden sind darin nicht enthalten. So kann die tatsächlich im Land erfolgte Verbreitung beobachtet werden.
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In London hat sich die «indische» Kurve per Ende April wieder abgeflacht und ist unter 10 Prozent geblieben, im Südwesten Englands war die Zunahme zwar deutlicher, aber noch nicht beunruhigend. Die Briten haben eine der besten Impfquoten der Welt, was es der Mutation schwer machen dürfte.
Für Pagel ist deshalb klar, dass der Wettlauf von Virusvarianten und Impfung weitergeht, wie sie auf Twitter schreibt. Neue Mutationen können demnach immer wieder zu neuen Ansteckungsherden führen, bis genügend Leute geimpft sind und Covid-19 nicht mehr genügend schwach oder ungeschützte Personen findet.
Hätte eine bessere Durchimpfung Indien vor der Katastrophe bewahrt?
Grundsätzlich natürlich schon, da die Impfung gegen die Mutation wirksam ist. In Indien haben aber erst etwas mehr als 10 Prozent der über 1,3 Milliarden Menschen mindestens eine Impfdosis erhalten. In der Schweiz sind es mit 21 Prozent rund doppelt so viele. Und in Grossbritannien haben mittlerweile über 50 Prozent mindestens eine Dosis erhalten, die Risikogruppen und alle über 50 Jahre sind praktisch vollständig durchgeimpft. Der Impfeffekt ist in den Zahlen der Neuinfektionen ersichtlich.
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Auch wenn Indien schon 20 Prozent geimpft hätte wie die Schweiz, wäre es wohl zu einem starken Anstieg gekommen, da vor allem die junge, ungeimpfte Bevölkerung das Virus verbreitet, wie Michael Head, Gesundheitsexperte an der Universität Southampton, zu CNN sagt. Es brauche eine Durchimpfung von 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung, um wirklich einen Effekt auf die Ansteckungszahlen zu sehen, sagt Head. Erst dann würden auch Jüngere langsam geimpft, und das Virus finde nicht mehr genügend Verbreitungsmöglichkeiten.
Indien hätte also wesentlich mehr Geimpfte benötigt, um die jetzige Eskalation verhindern zu können. Gleichzeitig bedeutet dies auch, dass die Schweiz noch ein gutes Stück von der Schwelle der Sorglosigkeit entfernt ist und uns jeder Tag, jede Impfung einen weiteren Schritt weg von einem mutationsbedingten Ausbruch bringt (aktuelle Zahlen zum Schweizer Impffortschritt: Corona-Impfmonitor).
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