Corona-Katastrophe in IndienJetzt fürchten auch die Reichen um ihr Leben
Ein Journalist sieht seine Freunde sterben, Virologe Anthony Fauci klagt den Westen an, und Christian Drosten beurteilt die neue Corona-Mutation. Eine Übersicht über die Lage in Indien.
In Indien werden derzeit täglich über 350’000 neue Coronavirus-Neuinfektionen und mehr als 2000 Todesfälle gemeldet. Im Land mit 1,3 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern fehlt es an Spitalbetten, Medikamenten und an Sauerstoff für die Beatmungsgeräte. Viele Spitäler haben ihre Tore wegen Überlastung geschlossen, die Erkrankten warten vergeblich und sterben. Mehr als 200’000 Tote hat das Virus nach offiziellen Angaben bisher gefordert, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Die Krematorien sind längst am Anschlag, täglich werden Hunderte Leichen auf offenen Feldern oder sogar auf Parkplätzen verbrannt.
Die Rolle der indischen Doppelmutante B.1.617 in der massiven zweiten Welle ist noch unklar. Expertinnen und Experten nennen neben der Sorglosigkeit der Regierung auch die vielen politischen Kundgebungen oder religiöse Massenzusammenkünfte als Ursache für die starke Verbreitung von Covid-19. Zudem haben weniger als 10 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner eine erste Impfdosis erhalten.
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Die Lage in Indien ist dramatisch, und die Szenen sind vergleichbar mit Wuhan, Bergamo oder New York zu Beginn der Pandemie. Ein Journalist vor Ort beschreibt, wie sich jetzt auch die Reichen nicht mehr retten können. Der US-Virologe Anthony Fauci fordert mehr Unterstützung der wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder, und der deutsche Experte Christian Drosten sagt, ob die indische Mutation besorgniserregend ist.
Journalist: «Krankheit und Tod sind überall»
Auslandkorrespondent Jeffrey Gettleman lebt mit seiner Familie in Delhi und berichtet für die «New York Times» aus Indien. Er beschreibt in seinem Artikel die dramatischen Szenen, die sich in seinem Quartier im Süden der Stadt abspielen, einer privilegierten Region, wo die vergleichsweise Reichen wohnen. Die zweite Welle der Pandemie hat nun aber Ausmasse erreicht, in denen Reichtum und Einfluss nichts mehr zählen, wie Gettleman berichtet. Ein Mann mit hervorragenden Kontakten zu wichtigen Personen setzte alle Hebel in Bewegung, um für einen Freund ein Spitalbett zu finden. Aber weder Geld noch Gefälligkeiten oder gute Beziehungen nützten etwas, das Chaos und die Überlastung sind zu gross. Der Freund starb.
Auch in seinem direkten Umfeld spitzt sich die Lage zu, wie der Journalist beschreibt. Ein Arbeitskollege ist infiziert, der Lehrer seines Sohnes, die Nachbarn zwei Wohnungen nebenan, im ganzen Quartier hat es Dutzende Fälle in mehreren Häusern. «Krankheit und Tod sind überall», schreibt er. Er fühle sich, als würde er zu Hause sitzen und darauf warten, dass auch er, auch seine Familie angesteckt würden.
Delhi hat 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, viele davon sind arm, viele davon sind dem Virus schutzlos ausgeliefert. Er sei privilegiert, könne sich immerhin verschanzen, und trotzdem habe er Angst, wie noch selten zuvor in seinem Leben. Das sagt er als ehemaliger Kriegsreporter, der im Irak entführt wurde und in mehreren Ländern ins Gefängnis geworfen wurde.
Was diese zweite Welle so furchteinflössend mache, sei das Ausmass der gleichzeitigen Infektionen, wie das Land vor seinen Augen kollabiere, und er realisiere, dass jetzt Zehntausende um ihn herum sterben werden. Wenn seine Familie erkranke, wenn er selber infiziert werde, dann sei es völlig ungewiss, ob sie mit einem milden Verlauf davonkämen oder medizinische Hilfe benötigten. Letzteres wäre derzeit fatal.
Gettleman schreibt, dass er versuche, positiv zu bleiben und so sein Immunsystem zu stärken. Doch es sei hart. Er bereitet seinen Kindern Essen aus Dosen zu und traut sich kaum, sein Smartphone zu checken, um zu erfahren, welchen Freunden und Bekannten es jetzt schlechter geht. Oder wer gestorben ist. In seinem Quartier traut sich niemand mehr raus, es sei, als wäre die Luft giftig, beschreibt der Journalist die komplette Leere. «Man hört nur noch zwei Dinge: die Sirenen der Krankenautos. Und Vogelgezwitscher.»
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Fauci: Der Westen muss mehr tun
Der US-Gesundheitsexperte und Präsidentenberater Anthony Fauci prangert an, dass die Weltgemeinschaft Indien in der zweiten Welle im Stich gelassen habe. In einem Gespräch mit «Guardian Australia» sagte der Spezialist für Infektionskrankheiten, dass die Lage in Indien die globale Ungleichheit deutlich mache. «Die einzige Möglichkeit, angemessen auf eine globale Pandemie zu reagieren, ist eine globale Reaktion. Eine globale Reaktion bedeutet weltweit Gerechtigkeit», sagte Fauci.
Die USA senden nun Sauerstoff, medizinische Schutzausrüstung, Remdesivir und andere Medikamente nach Indien. Bald sollen auch Impfstoffe geliefert werden. Auch andere Länder wie Deutschland und Grossbritannien senden Hilfsgüter oder bereiten dies vor. Sauerstoff wurde unter anderem auch von Singapur aus nach Indien geflogen. «Ich denke, das ist eine Verantwortung, die die reichen Länder übernehmen müssen. Im Moment ist es eine tragische Situation, in der Menschen sterben, weil es nicht genug Ressourcen gibt», sagte Fauci.
Mit Blick auf zukünftige Pandemien müssten die Gesundheitssysteme weltweit aufgerüstet werden, sagte Fauci. «Wir möchten auch die Möglichkeit einer besseren internationalen Überwachung haben, damit es nicht zu Verzögerungen kommt, wenn in einem bestimmten Land etwas Neues auftaucht.» Dabei nimmt er auch sein eigenes Land an der Nase, welches wie die Schweiz noch mit veralteter Technik kämpft. «Wir haben beispielsweise unser öffentliches Gesundheitssystem nicht auf einem Niveau gehalten, das wir uns gewünscht hätten. Wir verwenden immer noch Faxgeräte, was wirklich inakzeptabel ist. Man muss besser vorbereitet sein.»
Trotz der massiven Welle in Indien glaubt der US-Gesundheitsexperte aber, dass die Welt die Pandemie in den Griff bekommt. «Ich glaube, wir werden das schaffen, aber es wird schwieriger, wenn sich die Infektion in einem Land ausbreitet, das nicht sehr gut damit umgeht.» Das Problem sei zudem, dass in Indien viele Menschen ein geschwächtes Immunsystem hätten oder an HIV litten. Bei ihnen dauere es länger, Covid-19 zu überwinden, und das gebe dem Virus eine Chance, zu mutieren, was zur Entwicklung zusätzlicher Varianten führe.
Der 80-Jährige sagt, er widme all seine Energie diesem Virus und könne derzeit nicht einmal an ein mögliches Ende seiner langjährigen Karriere denken.
Drosten: Indische Variante nicht beunruhigend
Der deutsche Virologe und Corona-Experte Christian Drosten hat in seinem neuen NDR-Podcast am Dienstagabend auch über die indische Mutation B.1.617 gesprochen. Die Merkmale dieser Variante seien mit den anderen bekannten Versionen des Virus vergleichbar und «nichts, was einen wirklich gross beunruhigt». Wie auch die britische oder die brasilianische Mutation ist sie verbreitungsfähiger und robuster gegenüber der Immunantwort, aber keine neue Gefahr. Es gebe auch noch keine Belege dafür, dass Menschen schwerer erkrankten, sagte Drosten.
Die indische Mutation hält er derzeit in der Bewertung für überschätzt, diese Einschätzung könne sich aber noch ändern, wie er gleichzeitig festhielt. «In zwei Monaten stellt sich vielleicht heraus, dass doch irgendwas ist mit diesem Virus», sagt der Virologe, zum jetzigen Zeitpunkt deute aber nichts darauf hin.
In Indien sei auch die britische Variante B.1.1.7 stark verbreitet, es sei dort «eine bunt gemischte Virus-Population unterwegs». Die Bevölkerung habe im Vergleich zum Westen eine schlechtere Grundgesundheit und sei somit anfälliger. Die starke Welle führe nun auch dazu, dass sich sehr viele Menschen gleichzeitig ansteckten und man deshalb auch viel mehr junge Patienten oder schwere Verläufe sehe, als wir uns das aus den letzten Monaten gewohnt seien.
CNN aus Indien: Sorglosigkeit geht weiter
Der katastrophalen Lage im Land zum Trotz gibt es weiterhin politische Massenkundgebungen, wie CNN-Reporterin Manveena Suri aus Delhi berichtet. Mitglieder der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi hätten bei einer Veranstaltung im südlichen Bundesstaat Telangana um Unterstützung für die kommenden Kommunalwahlen geworben. Viele Teilnehmende hätten keine Masken getragen und keinen Abstand gehalten, schreibt Suri.
Die Corona-Regeln im Bundesstaat sind offenbar eher locker, so gilt zwar eine nächtliche Ausgangssperre, ansonsten gebe es aber keine strengen Massnahmen. Die Wahlkommission von Telangana sei zudem der Meinung, dass die notwendigen Covid-19-Bestimmungen bei der Veranstaltung eingehalten wurden. Die nationale Wahlkommission hatte grössere Versammlungen letzte Woche eingeschränkt, weil sich kaum jemand an die Richtlinien hielt. Für die lokalen Wahlen sind die Bundesstaaten aber selber zuständig.
Neben politischen Kundgebungen und Wahlkampfauftritten gelten auch religiöse Veranstaltungen wie das Holi-Fest Ende März oder die rituelle Reinigung im Ganges Mitte April als mögliche Superspreader-Events. Tausende kamen dabei jeweils zusammen, oft ohne Masken oder ohne Abstände einzuhalten.
Wie uns die Katastrophe beeinflusst
Indien ist die «Apotheke der Welt» und auch der grösste Impfstoffhersteller, 70 Millionen Dosen können monatlich hergestellt werden. Produziert werden derzeit Covishield, bei uns als AstraZeneca bekannt, sowie Novavax, welches in der Schweiz noch nicht zugelassen ist. Viele Impfdosen werden exportiert, weshalb in Indien erst 10 Prozent der Bevölkerung eine erste Spritze erhalten haben. Nun hält Indien alle produzierten Impfstoffe zurück, was die weltweite Knappheit beeinflussen könnte, hat aber selber trotzdem nicht genug.
Das Land, welches bisher 60 Prozent aller weltweiten Dosen herstellte, ist nun auf Importe angewiesen, darauf, dass andere Staaten ihm das begehrte Mittel abgeben. Nur gibt es praktisch überall Knappheit, viele Länder kämpfen wie die Schweiz noch darum, ihre Bevölkerung durchimpfen zu können, weil diese beispielsweise gern Sommerferien im Ausland machen würde. Die USA gehören neben Israel oder Grossbritannien zu den Spitzenreitern des Impfwettbewerbs, und sie überlegen sich nun, die 60 Millionen Dosen von AstraZeneca – das Mittel ist in den USA noch nicht zugelassen – an Indien abzugeben.
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Eine andere Möglichkeit zu helfen, läge in der temporären Lockerung der Patentrechte für Impfstoffe und Behandlungen, wie dies Indien oder Südafrika fordern. Auch mehr als 70 ehemalige Weltführer und 100 Nobelpreisträger appellieren an die Biden-Regierung, den Verzicht zu unterstützen. «Wenn wir Amerikas weltweite Führungsrolle in der Post-Trump-Ära wiederherstellen wollen, sollten wir anderen Ländern helfen, auf das technische Know-how zuzugreifen, das sie zur Herstellung ihrer eigenen Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 benötigen», sagte der demokratische Senator Chris Murphy. «Es ist eine einfache und effektive Möglichkeit für die USA, zu helfen.»
Mit gutem Beispiel voraus geht dabei ausgerechnet Russland. Ab 1. Mai sollen Impfstofflieferungen von Sputnik V in Indien ankommen, zudem soll das Land das Vakzin künftig auch selber herstellen können.
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