Kommentar zu Missständen bei RTSDie Zeit des Kuschens ist vorbei
Das Westschweizer Radio und Fernsehen ist ein geschlossenes System. Darum muss es Fälle von Übergriffen und Mobbing umso konsequenter ahnden.
Beim Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS) herrscht Panik. Selbst die Führung spricht von einer Krise. Drei Journalisten der Zeitung «Le Temps» sind dafür verantwortlich. Sie dokumentierten Fälle von Mobbing, Übergriffen und sexueller Belästigung. Mehr als zwei Dutzend RTS-Leute schilderten unangenehme Erlebnisse mit zwei Kadermännern und dem ehemaligen RTS-Starjournalisten Darius Rochebin. Diese Zeitung zeigte wiederum auf, wie die Talkshow «La grande lessive» (Die grosse Wäsche) journalistisch und menschlich in einem Debakel endete.
Die Enthüllungen haben einen Makel: Ausser dem Komiker Thomas Wiesel zogen es sämtliche Quellen vor, anonym zu bleiben – aus Angst vor Repressionen. Die Haltung der Quellen ist gleichwohl verständlich. Die RTS ist eine Art geschlossenes System. Ein Regisseur, ein Produzent, ein Tonmeister, ein Beleuchter, selbst ein Journalist kann heute bei der RTS nicht einfach kündigen und findet morgen in einem anderen Unternehmen einen neuen Posten. Für diese Berufsleute sind Stellen rar. Viele RTS-Angestellte bleiben deshalb ihre gesamte Berufskarriere lang im Unternehmen. Wer sich seine Zukunft nicht verbauen wollte, hielt sich mit Kritik lieber zurück. Auch damit lässt sich die Mauer des Schweigens erklären.
Ungewohnte Kritik
Doch das Schweigen ist zu Ende. Kritik ertönt von aussen, mit Stimmen aus dem RTS-Inneren. Solches war sich RTS-Direktor Pascal Crittin bislang nicht gewohnt. Seine Reaktion verdeutlich das. Stunden nach Erscheinen der «Le Temps»-Recherche schrieb er an die Belegschaft: «Der Artikel wirft uns Untätigkeit vor. Ich weise diese Anschuldigung kategorisch zurück.» Man habe Fälle von Mobbing und sexueller Belästigung immer «mit Sorgfalt und Entschiedenheit behandelt». Zeitgleich liess Chefredaktor Bernard Rappaz seine Mitarbeiter wissen, die Kollegen von «Le Temps» hätten «ein Amalgam», ein Gemisch, produziert und kämen zum Schluss, dass «auf unseren Redaktionen das Gesetz des Schweigens herrscht». Man habe auf Probleme immer reagiert und werde «den Vorwurf der Passivität niemals akzeptieren».
«Sie haben ihre Mitarbeiter belogen. Wir halten das für untragbar.»
Die Reaktion der Männer verletzte viele Frauen. Über den Inhalt und die Fülle ihrer Zuschriften an Pascal Crittin kann nur spekuliert werden. Die Wut der Frauen entlud sich auch bei SRG-Generaldirektor Gilles Marchand, von 2010 bis 2017 RTS-Direktor. Das RTS-Komitee für den Frauenstreik vom 14. Juni 2019 bezichtigte Marchand nach einem Radiointerview geradeheraus der Lüge. Er hatte angegeben, im Fall eines Kadermanns die Vorwürfe nicht gekannt zu haben. «Sie haben ihre Mitarbeiter belogen. Wir halten das für untragbar», schrieb das Frauenstreik-Komitee Marchand: Der SRG-Generaldirektor reagierte umgehend und gestand einen Missstand im Umgang mit Übergriffen ein. «Das ist mit den Werten des Service public nicht vereinbar», schrieb er in einer internen Mitteilung selbstkritisch.
Chef gibt Kommando ab
Für die RTS gibt es nun kein Zurück mehr. In ihrem Innern wird nun alles hinterfragt und ausgeleuchtet. Eines Tages wird das Arbeitsklima wieder ruhiger. Dafür wird aber vieles ändern müssen. Vor allem der Umgang untereinander. Chefredaktor Bernard Rappaz hat sich entschieden, sein Amt bis zum Abschluss der Untersuchungen ruhen zu lassen. Seine Einschätzung der Situation hat sich in wenigen Tagen fundamental geändert. «Es ist entscheidend, das Vertrauen wiederherzustellen und dass Leiden, Missstände und ungebührliches Benehmen nie mehr im Dunkeln bleiben», schrieb er am Mittwoch seinen Mitarbeitern. Das tönt nach Neuanfang.
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