Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Die USA und der Nahost-Konflikt
Gaza-Krieg spaltet Amerika

epaselect epa10958436 Protesters attend a rally in solidarity with the Palestinian people at Freedom Plaza in Washington, DC, USA, 04 November 2023. Thousands of Israelis and Palestinians have died since the militant group Hamas launched an unprecedented attack on Israel from the Gaza Strip on 07 October, and the Israeli strikes on the Palestinian enclave which followed it.  EPA/WILL OLIVER

Die Drohung war grafisch. Er werde im Gebäude der jüdischen Studentengruppe um sich schiessen, alle jüdischen Frauen vergewaltigen und alle jüdischen Babys köpfen, schrieb ein Nutzer namens «kill jews».

In einem Chatportal für Studenten der Eliteuniversität Cornell, mitten im idyllischen Bundesstaat New York.

Das überstieg die Möglichkeiten der Campus-Polizei, die an US-Universitäten dafür sorgt, dass der Alkoholkonsum in gewissen Grenzen bleibt. Schwer bewaffnet fuhren zwei Tage später Agenten der Bundespolizei FBI in der Universitätsstadt Ithaca auf und verhafteten einen 21-jährigen Informatikstudenten. Er muss sich vor einem Bundesgericht verantworten, bis zu 5 Jahre lang könnte er ins Gefängnis kommen.

Grosse Verunsicherung bei amerikanischen Juden

Die schrille Drohung hallt nach. Während die Suche nach dem Urheber lief, trauten sich die jüdischen Studenten in Ithaca nicht mehr, in ihre Wohnungen und Schlafsäle zurückzukehren, einige wurden von besorgten Eltern nach Hause geholt. Simone Shteingart, Vizepräsidentin des lokalen Ablegers der jüdischen Studentenorganisation Hillel, sagte: «Es ist beängstigend. Wer solche Drohungen ausspricht, weiss, dass das nicht legal ist. Wozu ist er sonst noch bereit?»

«Es ist beängstigend. Wer solche Drohungen ausspricht, weiss, dass das nicht legal ist. Wozu ist er sonst noch bereit?»

Simone Shteingart, jüdische Studentin

Die Verunsicherung reicht gerade sehr tief bei amerikanischen Juden. Sie haben erlebt, wie sich das gesellschaftliche Klima in den vergangenen Jahren gegen sie zu wenden begann, wie jedes Jahr mehr Juden beschimpft, angegriffen, ermordet wurden wie in Pittsburgh 2018.

Die Zahl der antisemitischen Übergriffe in den USA sei seit dem Terroranschlag der Hamas in Israel um beinahe das Vierfache gestiegen, meldet die jüdische Bürgerrechtsorganisation Anti-Defamation League. Alarmiert zeigt sie sich über die Reaktionen an renommierten Universitäten, von Harvard bis zur University of California. Ein Geschichtsprofessor von Cornell beispielsweise pries die Hamas-Attacke als «berauschend»; er ist beurlaubt. Einen organisierten Angriff habe darauf die propalästinensische Gruppierung «Students for Justice in Palestine» angeführt, macht die Anti-Defamation League geltend.

Eilig Antisemitismus verurteilt

Als viele Universitätsleitungen zu propalästinensischen Demonstrationen schwiegen, zogen sich mächtige Sponsoren zurück. Die Columbia University und die University of Pennsylvania versandten darauf eilig Communiqués, in denen sie den Angriff von der Hamas und Antisemitismus verurteilten.

Gross ist die Verunsicherung auch auf der anderen Seite des Konflikts. Die Atmosphäre an der Cornell University sei unglaublich angespannt, sagte eine 21-jährige muslimische Studentin. Derart angespannt, dass sie zuerst eine befreundete arabische Journalistin beizog, bevor sie in ein Gespräch mit dem Korrespondenten aus Europa einwilligte. Schliesslich reagierte sie plötzlich nicht mehr, als sie ihre Zitate autorisieren sollte: Deshalb bleibt sie anonym.

Warum sie sich fürchtet, mit Namen hinzustehen, hatte die junge Muslima zuvor begründet. «Wir sind auf eine Menge Widerstand gestossen, weil wir gegen die Unterdrückung der Palästinenser protestiert hatten», erzählte sie. Ihre muslimische Studentenorganisation hatte Stellungnahmen zum Krieg in Gaza veröffentlicht, die als Aufruf zur Auslöschung Israels verstanden werden konnten. Ähnliche Schreiben waren auch an der Eliteuniversität Harvard erschienen. Wenig später tauchte auf dem Campus ein Lastwagen mit riesigem Bildschirm auf. Darauf prangten die Fotos und Namen der Urheber. Auch sie erhielten Todesdrohungen.

Eine Atmosphäre wie nach 9/11

«Wir werden zu Unrecht beschuldigt, die Spannungen zu schüren», sagte die Medizinstudentin. «Wir sind keine Antisemiten. Die Drohungen gegen jüdische Studenten an unserer Schule kamen nicht einmal von einem Muslim.» Als muslimische Amerikanerin mit Wurzeln im Sudan habe sie sich endlich etwas unbeschwerter gefühlt nach den schwierigen Jahren, die auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 folgten. «Jetzt schaut man uns Muslime wieder schief an.»

«Wir erleben viel Diskriminierung, und es ist schwierig für mich, dass der Rektor meiner Universität hinter Israel steht und nicht hinter mir.»

Reem, 20 Jahre alt, New York

Blicke, Misstrauen, Vorwürfe: Das kennt auch Reem, Amerikanerin mit ägyptischer Herkunft, wie sie betonte. «Wir erleben viel Diskriminierung, und es ist schwierig für mich, dass der Rektor meiner Universität hinter Israel steht und nicht hinter mir», erzählte die 20-Jährige aus New York. Sie habe Poster aufgehängt mit Fotos von Kindern, «die von Israel ermordet worden waren». «Die Zionisten» hätten die Plakate heruntergerissen, und «dann haben die Juden uns auch noch beim Rektor angeschwärzt, und wir mussten uns rechtfertigen. Dabei hatten wir nichts falsch gemacht.» Während sich Reem ins Feuer redete, beobachteten ihre Freundinnen skeptisch die Unterhaltung mit dem Journalisten, um sie nach wenigen Sätzen zu unterbrechen: Die Mutter sei am Telefon – und weg war die junge Frau.

WASHINGTON, DC - NOVEMBER 04: Protesters gather in Freedom Plaza during the National March on Washington for Palestine while calling for a ceasefire between Israel and Hamas on November 4, 2023 in Washington, DC. Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu has stated that there will be no ceasefire or pause in hostilities in the Gaza Strip until all hostages held by Hamas are released.   Win McNamee/Getty Images/AFP (Photo by WIN MCNAMEE / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / Getty Images via AFP)

Solches Misstrauen schlug Reportern oft entgegen an einem propalästinensischen Protestzug am Samstag in Washington, an dem Reem mitmarschierte. Zehntausende Demonstranten hatten sich unweit des Weissen Hauses zu einer der bisher grössten propalästinensischen Kundgebung in den USA versammelt, wie auch in Bern und weiteren Hauptstädten. Während sich die Amerikaner bei anderen politischen Manifestationen bereitwillig vor jede Fernsehkamera stellen, wandten sich in Washington zahlreiche Demonstranten wortlos von dem Zeitungsjournalisten aus dem fernen Europa ab. Regelmässig waren Slogans gegen die Medien zu hören, die die Menschen manipulierten.

«Jetzt ist Joe Biden Teil der Gewalt.»

Areej Ramadan, amerikanische Studentin

Areej Ramadan scheute sich nicht, ihren Namen zu nennen. Auch sie sei jedoch vorsichtig geworden, trage auf Bitten ihrer Mutter keine Palästina-T-Shirts mehr in der Öffentlichkeit, für ein Foto posieren wollte sie ebenfalls nicht. «Die USA betrachten diese ganze Situation nicht fair, besonders die Regierung», sagte Ramadan. Besonders wütend ist die 23-Jährige aus Maryland auf Joe Biden. 2020 hatte sie ihn gewählt, wie fast zwei Drittel der amerikanischen Muslime. «Jetzt ist Joe Biden Teil der Gewalt», sagte Ramadan. Ihre Stimme erhalte der Präsidentschaftskandidat der Demokraten bei den nächsten Wahlen bestimmt nicht mehr.

Gegen Joe Biden richtete sich ein grosser Teil der Kritik an dem Protestzug in Washington. Der US-Präsident hatte sich hinter Israel gestellt nach dem Terrorangriff der Hamas und ein Hilfspaket von 14 Milliarden Dollar versprochen. Rufen nach einem Waffenstillstand hat er sich bisher verweigert; inzwischen verlangt er immerhin eine humanitäre Gefechtspause. Hinter diesem Kurs steht gemäss Umfragen eine knappe Mehrheit der Amerikaner.

Afroamerikaner wollen am Wahltag zu Hause bleiben

Besonders Junge verlangen allerdings dezidiert mehr Distanz zu Israel. «Ich will nicht, dass unsere Steuergelder direkt einen Krieg in einem anderen Land finanzieren, während die Leute hier arm sind und verhungern», sagte ein 23-jähriger Amerikaner mit afghanischen Wurzeln. Die Amerikaner würden gerade das Vertrauen in ihre Regierung verlieren. Biden werde er bestimmt nicht mehr wählen.

Über Biden enttäuscht äusserte sich auch ein 23-jähriger Afroamerikaner aus Virginia. «Ich habe Joe Biden gewählt, aber er tut nichts von dem, woran ich glaube und was er versprochen hatte», sagte er. «Ich schäme mich, ihm meine Stimme gegeben zu haben.» Die Alternative Donald Trump sei indes ebenso wenig auf seiner Linie. Nun muss Biden befürchten, dass viele Afroamerikaner am Wahltag zu Hause bleiben, statt für ihn zu stimmen. Für sie ist das Schicksal der Palästinenser eng mit jenem ihrer eigenen Bürgerrechtsbewegung verbunden: Schon Malcolm X und Nelson Mandela hätten sich mit den Palästinensern solidarisiert, erklärte beispielsweise der Demonstrant in Washington.

Der Protestzug fand unter dem Motto «Free Palestine» als «March on Washington» statt, wie der Protestmarsch der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King vor 60 Jahren. Um Menschenrechte sollte es auch am Samstag in Washington gehen, in einer friedlichen Protestbewegung aus vielerlei Gruppen, befeuert von der Wut auf die Mächtigen dieser Welt.

Aufruf zur Auslöschung der «europäischen Siedlerkolonie»

Doch nebst pazifistischen Rufen wurde Israel an dem Protestmarsch klar als Sündenbock bezeichnet, der jüdische Staat, der Juden endlich ein Leben in Sicherheit ermöglichen sollte. Jener Staat auf dem Gebiet Palästinas, das die Demonstranten «vom Fluss bis zum Meer» befreit sehen wollen, wie sie skandierten. Es ist eine explosive Forderung, denn gemeint ist das ganze Territorium vom Jordan bis zum Mittelmeer – darunter das gesamte Staatsgebiet von Israel. Wortreich erklärte die muslimische Cornell-Studentin, der Rufe spreche nicht Israel das Existenzrecht ab, sondern verlange einen lebensfähigen palästinensischen Staat.

Allerdings liessen mehrere Redner keinen Zweifel aufkommen, dass sie damit zur Auslöschung der angeblichen «europäischen Siedlerkolonie» aufrufen. Vergeblich hatte eine Teilnehmerin den Journalisten zu Beginn des Protestzugs gebeten, solche Stimmen zu ignorieren und nur über die Friedensrufe zu berichten.