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EU-Kommissarin gegen Osteuropas Autokraten
Die Unbeugsame von Brüssel

Die Tschechin Vera Jourova hat keinen leichten Job: Sie ist Vizepräsidentin der EU-Kommission und für Rechtsstaatlichkeit zuständig.
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Konflikten ist Vera Jourova eigentlich nie ausgewichen. Als diese Zeitung im April wissen wollte, ob sie Ungarn «überhaupt noch als Demokratie» bezeichnen würde, sagte die für Werte zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, die dortige Lage bereite ihr «das grösste Kopfzerbrechen». Man solle die Frage im Laufe des Jahres erneut stellen, bat die Tschechin damals. Indirekt gab sie ihre Antwort Ende September im deutschen Nachrichtenmagazin «Spiegel»: Ministerpräsident Viktor Orban baue «eine kranke Demokratie» auf. Der Autokrat tobte und forderte von Kommissionschefin Ursula von der Leyen die Entlassung Jourovas.

Eine Woche nachdem der Brief aus Budapest in Brüssel eingetroffen ist, empfängt Jourova im elften Stock des Berlaymont-Gebäudes eine Handvoll internationale Medien zum Interview. Wie meistens ist die 56-Jährige offen und gut gelaunt. Die Aussage über Orbans Vorgehen bereut sie nicht: «Ungefähr tausendmal habe ich von ‹ernsten Sorgen› über Ungarns Demokratie gesprochen, nun habe ich einen anderen Begriff gewählt.» Die Kritik, über das Ziel hinausgeschossen und der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit geschadet zu haben, weist Jourova zurück: «Die Leute diskutieren über meine Formulierung, aber nicht, ob die Aussage wahr ist oder nicht.» Und dass Orban seit 2010 die Demokratie systematisch aushöhlt, hat auch der jüngst vorgelegte Rechtsstaatsbericht der Kommission umfassend belegt.

Fremdenfeindliche Rhetorik in Ungarn

Jourova hält es für wertvoll, offen mit den Mitgliedsstaaten über gute und schlechte Entwicklungen zu reden: «Ich definiere es als negativ, wenn die Spielräume für unabhängige Medien in Ungarn immer kleiner werden.» Ob Orbans Regierung ihre Ankündigung umsetzt und alle Kontakte mit Jourova einstellen wird, sei noch offen: «Ich weiss nicht, was diese Ankündigung bedeutet.» Sie ist sichtlich bemüht, weitere Kontroversen zu vermeiden, aber sie schwächt nichts ab. Sie stehe auf der Seite der Ungarn, die das Recht hätten, ihre Stimmen frei abgeben zu können. 2018 konstatierten Wahlbeobachter der OSZE eine «einschüchternde und fremdenfeindliche Rhetorik, voreingenommene Medien sowie undurchsichtige Wahlfinanzierung». Keinesfalls habe sie das ungarische Volk beleidigt und auch nicht Orban selbst. «Wenn er darin einen Angriff sieht, hat er es mir nun zurückgezahlt», sagt sie unbeeindruckt.

Kein Freund von unabhängigen Medien: Ungarns Premier Viktor Orban.

Dass Jourova in Brüssel sowohl bei Abgeordneten als auch Journalisten populär ist, liegt nicht nur an knackigen Zitaten – Polens Justizreform nannte sie im Februar ein «Flächenbombardement». Ihr Denken ist unabhängig, ihr Einsatz glaubwürdig und geprägt durch ihre Biografie: Sie wuchs in der autokratischen Tschechoslowakei auf und weiss, was George Orwells Spruch «Manche sind gleicher als andere» bedeutet. Wie wichtig unabhängige Richter und Staatsanwälte sind, hat Jourova selbst erfahren: 2006 verbrachte sie mehr als einen Monat im Gefängnis, weil ihr Korruption vorgeworfen wurde. Nach der Freilassung studierte sie Jura, trat der Ano-Bewegung des heutigen Premierministers Andrej Babis bei und war zwischenzeitlich die zweitpopulärste Politikerin Tschechiens.

2019 kürte sie das Magazin «Time» zu einer der 100 mächtigsten Personen der Welt.

Als Kommissarin für Justiz und Verbraucherschutz war sie von 2014 an unter anderem zuständig für die Einführung der Datenschutzgrundverordnung, die globale Standards setzt. 2019 kürte sie das Magazin «Time» zu einer der 100 mächtigsten Personen der Welt. Mit Techfirmen aus dem Silicon Valley hat sie ebenso zu tun wie mit der US-Regierung. Sie sagt, in Washington oft den Satz gehört zu haben: «Wir trauen nicht allen EU-Staaten, dass der Rechtsstaat dort funktioniert.»

Das Beispiel soll zweierlei illustrieren: Die Debatte über eine unabhängige Justiz, freie Medien und den Kampf gegen Korruption ist «nichts Akademisches», sondern hat Folgen. Und weil sich das Verhältnis auch unter den Mitgliedsstaaten verschlechtere, plädiert sie dafür, bei Rechtsstaatsverstössen die Auszahlung von EU-Geldern zu bremsen. Über die Verhandlungen über den EU-Haushalt bis 2027 sowie den milliardenschweren Corona-Hilfstopf sagt sie: «Wir verteilen etwa 1,7 Billionen Euro, gleichzeitig nimmt das Vertrauen untereinander ab. Das kann nicht funktionieren, wir dürfen das System nicht überheizen. Es braucht Schutzmassnahmen.»

Gesetze anwenden

Ihr ist wichtig, dass der neue Mechanismus nicht wie die gegen Ungarn und Polen laufenden Artikel-7-Verfahren wirkungslos bleibt, weil Einstimmigkeit nötig ist. Viele Verbündete sitzen im EU-Parlament: Die Chefs der vier grössten Fraktionen haben den Kompromissvorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft gemeinsam zurückgewiesen und fordern strengere Regeln.

Den Rechtsstaatsbericht der Kommission verteidigt Jourova im Plenarsaal wie im Interview. Alle 27 Staaten würden verglichen, schleichende Verschlechterungen sollen so entdeckt werden. Der Klage, dass die Behörde immer mehr «Werkzeuge» zur Wahrung des Rechtsstaats erhalte, aber diese nicht genug einsetzen würde, widerspricht sie. Man wende strikt die Gesetze an.