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EU-Bericht mit Zündstoff
Ungarn und Polen fallen beim Rechtsstaat-Test durch

Vera Jourova, Vizepräsidentin der EU-Kommission, hat zusammen mit Justizkommissar Didier Reynders einen Bericht zum Gesundheitszustand des Rechtsstaats in den 27 Mitgliedsstaaten vorgestellt.
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Eine Mahnung kann besonders glaubwürdig sein, wenn dahinter auch noch persönliche Erfahrung steckt. Die Tschechin Vera Jourova, Vizepräsidentin der EU-Kommission, konnte auf ihre Biografie verweisen, als sie am Mittwoch den Bericht über den Zustand von Rechtsstaat, Korruptionsbekämpfung, Gewaltenteilung und Medienfreiheit in den Mitgliedsstaaten präsentierte. Der Bericht wirft ein düsteres Licht auf die Lage in Ländern wie Ungarn und Polen, wobei es auch anderswo Defizite gibt.

Sie habe in einem autoritären Regime gelebt, wisse also aus erster Hand, was es bedeute, ohne Rechtsstaat aufzuwachsen, sagte die heute 56-jährige Vizepräsidentin. Rechtsstaat und Gewaltenteilung seien in der kommunistischen Tschechoslowakei eine Illusion gewesen. Die politisch bestimmten Richter hätten nicht dem Recht gedient. Es gibt Beobachter und Experten, die Länder wie Ungarn oder Polen weit fortgeschritten auf dem Weg zurück in diese Vergangenheit sehen.

Vernichtendes Zeugnis

Auch die EU-Kommission stellte Staaten wie Ungarn und Polen ein vernichtendes Zeugnis aus. Bei Ungarn wird die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz angeprangert sowie «eklatante Mängel» bei der Korruptionsbekämpfung. Im Fall von Polen bestätigt die Kommission ebenfalls ihre Bedenken mit Blick auf die Unabhängigkeit von Richtern. Der Einfluss von Regierung und Parlament auf die Gerichte sei gewachsen.

Die Berichte zur Lage in den 27 EU-Staaten sollten eigentlich die Debatte versachlichen. Die EU-Kommission wollte den Vorwurf aus Ungarn und Polen entkräften, unterschiedliche Massstäbe anzulegen. Jedes Land kriegt sein Zeugnis, wobei positive Entwicklungen und Kritikpunkte aufgeführt werden. «Wir behandeln alle Mitgliedsstaaten gleich», sagte Vera Jourova. Wäre die Schweiz in der EU, hätte die Kommission vermutlich die jüngste Bundesrichterwahl unter die Lupe genommen. Im Fall von Deutschland zum Beispiel wird bemängelt, dass die Justizminister in den Bundesländern den Staatsanwälten in gewissen Fällen Weisungen erteilen können. Eines der Beispiele, mit denen etwa die Regierung in Warschau gerne Kritik an ihrem Rückbau des polnischen Rechtsstaats relativiert.

Neben der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruptionsbekämpfung hat sich die Kommission auch die Lage der Medien angeschaut. Sie sei in einem Land aufgewachsen, in dem die Medien Propaganda im Dienst der Herrschenden verbreiten mussten, sagte Vera Jourova. Für eine andere Version habe man das Kurzwellenprogramm von Radio Free Europe einschalten müssen. Erst vor drei Wochen wurde bekannt, dass drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges der vom US-Kongress gesponserte Sender sein Programm in ungarischer Sprache wieder aufnehmen will.

Medienvielfalt ist gefährdet

In Ungarn sei die Medienaufsichtsbehörde nicht unabhängig, die Konzentration von Medien unter dem Dach einer regierungsnahen Stiftung gefährde die Medienvielfalt und staatliche Werbemittel würden regierungsfreundlichen Medien zugeführt, kritisiert die EU-Kommission in ihrem Bericht. Die Regierung übe so indirekten politischen Einfluss auf die Medien aus. Die verbliebenen unabhängigen Medien würden eingeschüchtert und sähen sich mit systematischer Obstruktion konfrontiert.

Vera Jourova stellte die Berichte zur Rechtsstaatlichkeit, die regelmässig aktualisiert werden sollen, als Instrument der Prävention dar. Neben Ungarn und Polen gibt es auch in Bulgarien, Slowenien, Malta und Kroatien beunruhigende Entwicklungen. Es gibt Länder mit Defiziten und Länder mit tiefgreifenden Systemproblemen. Im Fall von Ungarn und auch Polen scheint es für Prävention schon spät zu sein. Zu spät, sagen Beobachter. Zumindest in Ungarn hat Viktor Orban den Rückbau von Demokratie und Rechtsstaat so weit vorangetrieben, dass ein demokratischer Machtwechsel auf absehbare Zeit ausgeschlossen scheint.

Ungarn sei eine «kranke Demokratie».

Vera Jourova, Vizepräsidentin der EU-Kommission

Die Bemühungen der EU-Kommission als Wächterin über die Verträge, diese Entwicklung zu stoppen, sind bisher weitgehend ins Leere gelaufen. Die Vertragsverletzungsverfahren bis vor den Europäischen Gerichtshof haben sich als weitgehend stumpfe Instrumente erwiesen. Die sogenannte Nuklearoption, also die Drohung mit dem Stimmrechtsentzug, scheitert daran, dass alle Mitgliedsstaaten einverstanden sein müssten. Vera Jourova sprach davon, dass die Rechtsstaatsberichte eine neue Grundlage für einen Dialog sein sollen.

Die Aussichten für diesen Dialog sind allerdings schlecht. Im Streit um einen Rechtsstaatsmechanismus im neuen EU-Haushalt droht sogar die Eskalation. Die grosse Mehrheit der Staaten will EU-Fördergelder stoppen können, wenn ein Land gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstösst. Ungarns Regierungschef Viktor Orban hat zudem in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Rücktritt der Tschechin gefordert. Vera Jourova hatte es in einem Interview mit dem «Spiegel» gewagt, Ungarn als «kranke Demokratie» zu bezeichnen. Sollte von der Leyen der Aufforderung nicht Folge leisten, will Orban die Tschechin aus Brüssel in Budapest nicht mehr empfangen. Vera Jourova wollte auf die Drohung nicht eingehen. Ihre Tür sei immer offen.