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Endstation Schrottplatz oder Museum
Die Schweiz verabschiedet ihre klassischen Eisenbahnwagen

Damals der letzte Schrei: Der EW I im Jahr 1959.
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Wenn die Einheitswagen I (sprich: eins) in ihren letzten Monaten nochmals auf die Schiene durften, dann nur noch, um auszuputzen: Die SBB führten sie als Ersatzkomposition, wenn einer der modernen Züge wegen einer Panne liegenblieb. Oder wenn ein ICE, mit Verspätung von Deutschland kommend, nicht bis Zürich durchfuhr, sondern schon in Basel wendete.

Im Mai haben die SBB die letzte Komposition an Einheitswagen I, die «eiserne Reserve», aus dem Verkehr gezogen und verschrottet. Damit endete nicht nur der Lebenszyklus irgendeines Wagentyps; für viele war er ein wichtiger Teil der Schweizer Nachkriegs- und Industriegeschichte.

Über 1200 Wagen dieses Typs kauften die SBB zwischen 1956 und 1967 – so viele wie davor und danach nie von einem anderen. Millionen Menschen fuhren damit in die Ferien, ins Klassenlager, oder schlicht zur Arbeit. Die grüne und rote Polsterung brannten sich in das kollektive Gedächtnis von Generationen ein. Aussen waren sie zuerst grün gestrichen, später wurden sie in Blau-Weiss-Gelb zum Rückgrat des Nahverkehrs.

«Die modernen Fernverkehrszüge sind aus meiner Sicht bessere S-Bahnen, so beengt fühlt man sich dort drin. Im Einheitswagen dagegen kann man richtig atmen. Die Decke ist hoch, das Auge darf schweifen.»

Karl Emmenegger, Autor des Buchs «Die Leichtstahlwagen der Schweizerischen Bundesbahnen (Normalspur)» (1997, Pharos)

Für Bahnliebhaber war der EW I, so die Abkürzung im Jargon, aber noch mehr: nämlich der Klassiker unter den Eisenbahnwagen. «Der Abschied stimmt darum viele sehr traurig», sagt Karl Emmenegger wehmütig. Der Autor eines Buches über Schweizer Rollmaterial sagt gar, «dass damit das Ende der echten Eisenbahnwaggons eingeläutet wird».

Der EW I war nämlich nicht nur selbst eine Legende, sondern wirkte auch stilbildend: Nach ihm bestellten die SBB drei weiterentwickelte Serien an Einheitswagen. Während sie die EW II und III schon seit 2015 respektive 2004 nicht mehr einsetzen, fährt der EW IV heute noch. Das ist der Einstöcker im Interregio- und Intercity-Verkehr. Die SBB planen, ihn bis 2027 durch Kiss-Doppeldecker von Stadler Rail zu ersetzen.

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Könnten noch lange, die SBB ersetzt sie trotzdem in den kommenden Jahren: EW IV mit Steuerwagen.
Der Zug prägte Generationen:  EW I bei Chénens FR, 1963.
Ein bisschen länger, der Boden ein wenig tiefer, das Fenster neben der Türe kleiner: Der EW II, hier ein Bild von 1965, unterschied sich nur in Details vom EW I.

«Dabei wurde der EW IV 2017 gerade für 90 Millionen renoviert und ist mit seiner ausgezeichneten Laufruhe, Klimaanlagen und der grosszügigen Innengestaltung nach wie vor ein hervorragender Wagen», sagt Emmenegger. Allerdings erfüllt der Wagen mit seinen Stufen die Bedingung des Behindertengleichstellungsgesetzes nicht, hindernisfreie Einstiege zu bieten. Für die SBB haben die modernen Stadler-Züge weitere Vorteile: Weil sie Triebzüge sind, beschleunigen sie unter anderem schneller. Zudem finden dank des zweiten Stockwerks deutlich mehr Reisende Platz.

«Für das Reiseerlebnis sehe ich dagegen Nachteile», sagt Emmenegger. «Die modernen Fernverkehrszüge sind aus meiner Sicht bessere S-Bahnen, so beengt fühlt man sich dort drin. Im Einheitswagen dagegen kann man richtig atmen. Die Decke ist hoch, das Auge darf schweifen.» Als ab zweiten Hälfte der 1950er-Jahre die ersten EW-I-Kompositionen verkehrt seien, hätten sich die Passagiere in den 1. Klasse-Wagen sogar ausgestellt gefühlt, so offen sei das Raumgefühl gegenüber den Vorgängerwagen gewesen.

Vier Wagenbauer beteiligt

1955 hatten die Schweizerische Industriegesellschaft in Neuhausen am Rheinfall SH und die Schweizerische Wagons- und Aufzügefabrik in Schlieren ZH eine Ausschreibung der SBB um neue Wagen gewonnen. Ebenfalls mit dem Bau betraut wurden darauf die Schindler Waggon in Pratteln BL und die Flug- und Fahrzeugwerke in Altenrhein SG.

Ein wichtiger Grund für den Erfolg des Projekts dabei nicht das Raumgefühl, sondern das Gewicht und der Preis, die dank einer vereinfachten Kastenbauweise tief gehalten werden konnten. Zudem platzierten die Ingenieure die Türen über den Drehgestellen, was vorher technisch nicht möglich gewesen war. Die WCs bauten sie zwischen Türe und Wagenübergang, was für potenzielle Crashs zusätzliche Knautschzone schaffte.

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Letzter Einheitswagen der SBB: Die erste Klasse des EW IV im Jahr 2003.
Die rote Polsterung ist legendär: 1. Klasse des EW I im Jahr 1962.
Kunst an der Wand: Kondikteurlehrling in der 1.  Klasse eines EW II, 1973.

Vom EW II, der sich nur in Details vom EW I unterschied, beschafften die SBB von 1965 bis 1976 rund 700 Stück. Zwischen 1972 und 1975 liessen sie 72 Wagen des erstmals klimatisierten EW III bauen, mit denen sie den Swiss Express auf der Hauptverkehrsachse Genf-St. Gallen bestückten. Wieder zur Ikone wurde der EW IV. 540 davon wurden davon zwischen 1981 und 1992 gebaut.

Als sich der Verwaltungsrat 1993 gegen einen EW V und für den doppelstöckigen IC 2000 entschied, begann die Ära der effizienten Platznutzung. «So schade es ist, das ist der Lauf der Dinge», sagt Emmenegger. «Früher hat man dort gewohnt, wo man arbeitete, heute pendelt man – da muss man jeden Quadratmeter nutzen. Aus Sicht der SBB sind die gewählten Schritte darum sinnvoll.»

Bald sind ihre alten Wagen nur noch im Fuhrpark von SBB Historic, der Stiftung für das historische Erbe der Bahn, und bei privaten Vereinen zu finden. Hinzu kommt eine Handvoll Messzüge der Infrastruktur-Abteilung der SBB und einzelne Wagen, die für Feuerwehr- und Polizeiübungen verwendet werden.

RhB führt noch zahlreiche EW

Ähnlich wie die SBB planen die anderen Normalspurbahnen in der Schweiz: Die Südostbahn (SOB) überführt in diesen Tagen ihre letzten drei EW I an die ungarische Staatsbahn. Die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) hat noch drei EW-III-Kompositionen, die sie ursprünglich von den SBB übernommen hatte und die sie für Charterfahrten einsetzt. Sie legt sie auf Ende Jahr still.

Bei den Schmalspurbahnen verfolgt die Berner Oberlandbahn (BOB) die gleiche Strategie. Sie hat ihre Einheitswagen schon vor Jahren ausgemustert. Weiter östlich dagegen setzen die Bahnbetreiber noch ganz bewusst auf Nostalgie: So fahren die Appenzeller Bahnen zwischen Rheineck SG und Walzenhausen AR täglich mit einem Triebwagen von 1957. Bei schönem Wetter hängen sie auf der Normalspur zwischen Rorschach SG und Heiden AR einen Personenwagen von 1875 an.

Die Rhätische Bahn (RhB) fährt heute noch mit 80 EW I, 70 EW II, 10 EW III und 16 EW IV. Sie alle sollen zwar in den nächsten Jahren ausgemustert werden. Allerdings sucht die RhB nicht ein komplett neues Gefährt als Ersatz, sondern einen EW V. Die Ausschreibung läuft aktuell.

Der neue Wagen soll an die alten Modelle angelehnt sein, aber alle Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts mitbringen, also einen breiten Niederflureinstieg, digitale Kundeninformationssysteme und eine Klimaanlage. Zumindest auf der Schweizer Schmalspur wird das «Ende der echten Eisenbahnwagens» also nochmals um Jahrzehnte vertagt.