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Meinung

Zu wenig Therapeuten
Die Not der Gebrochenen

Einblick in eine Therapiesitzung in einer Praxis in Zürich.
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Manche Patienten rufen ihre Therapeutinnen am Wochenende in die Praxis an. Nicht weil sie denken, diese sässen dort und würden mit ihnen reden. Sondern nur, um die Stimme ihres Therapeuten zu hören; um in der Not und der Einsamkeit die Illusion aufrechtzuerhalten, nicht ganz alleine zu sein. Eine Psychotherapie ist ein Geländer, an dem sich jene festhalten können, denen der Absturz droht.

Sie ist auch eine Beziehung. Keine gleichwertige, das ist wahr, die eine hört zu und berät, der andere sucht Hilfe und erzählt. Aber jede Beziehung braucht nicht nur eine gewisse Konstanz, sondern ist auf Regelmässigkeit angewiesen. Sonst fällt sie auseinander, oder aber der Patient und seine Therapeutin müssen immer wieder von vorne anfangen.

Monatelanges Warten

Genau das droht jetzt, da immer mehr psychotherapeutische Praxen monatelange Wartelisten haben. Und selbst jene, die einen Therapeuten haben, können ihn nur noch alle drei Wochen sehen. Das eine hat mit dem wachsenden Bedürfnis in der Bevölkerung zu tun, sich psychisch helfen zu lassen. Das andere mit der Weigerung von Santésuisse, Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu bezahlen, die noch in Ausbildung sind.

Warum werden immer mehr Menschen psychisch krank? Entwickeln Depressionen, Süchte, zwanghaftes Verhalten, schwere Kontaktstörungen, psychosomatische Symptome? Man weiss es nicht, obwohl klar sein muss, dass die Corona-Krise die Einsamkeit und damit die Anfälligkeit fürs psychische Krankwerden beschleunigt hat. Möglicherweise, und das wäre die gute Nachricht, ist die Bereitschaft der Bevölkerung gestiegen, psychische Not zu akzeptieren und nicht mehr aus Scham zu verstecken oder der Angst, ausgegrenzt oder verspottet zu werden.

Aber die beunruhigende Tatsache bleibt: Es gibt immer mehr Leute in der Schweiz mit psychischen Problemen, aber es gibt immer weniger ausgebildete Psychologinnen und Psychologen, die sich um sie kümmern können. Die Weigerung vieler Krankenkassen, Therapeuten in Ausbildung zu bezahlen, verschärft das Problem zusätzlich.

Die Folgen drohen katastrophal zu werden. Kurzfristig werden sich psychisch Fragile entweder an die Psychiater wenden oder gleich direkt ins Spital gehen. Aber erstens sind auch die Psychiaterinnen überlastet und sind Spitäler gerade nicht für das psychische Leiden zuständig. Dass aber Patienten freiwillig eine psychiatrische Klinik aufsuchen, dafür ist die Vorstellung noch zu weit verbreitet, nur Wahnsinnige würden dort versorgt.

Ausfälle und Rückfälle

Die langfristigen Folgen dieser Unterversorgung sind nicht abzuschätzen. Aber ohne Behandlung tendieren psychische Störungen dazu, sich zu verstärken. Die Patienten werden noch depressiver, süchtiger, manischer und zwanghafter, dadurch vereinsamen sie noch mehr. Und die Gesellschaft zahlt am Ende viel mehr für die Ausfälle und Rückfälle, als die Krankenkassen jetzt auf ihre Kosten sparen können.

Psychische Krankheiten sind nicht wie ein Beinbruch, sie sind viel schlimmer. Ein gebrochenes Bein kann man schienen, einen gebrochenen Menschen nicht. Seine Behandlung dauert viel länger, und wirklich geheilt wird keiner. Sigmund Freud, der die Psychotherapie als Psychoanalyse erfand, sagte es als Erstes am ehrlichsten von allen. Es sei schon viel damit gewonnen, schrieb er schon 1895 in einer berühmten Passage zur Psychotherapie der Hysterie, «wenn es uns gelingt, hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln». 

Lasst uns unglücklich werden.