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Nach dem EU-Gipfel
Die «Die Magie der Europäischen Union» scheint aufgebraucht

Wollen Ungarn und Polen nicht nachgeben: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel bei der Medienkonferenz nach dem Gipfel. 
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Bruchlinien in den eigenen Reihen übertünchen, das kann man in diesen höchsten Kreisen besonders gut. Ganze 17 Minuten haben die Staats- und Regierungschefs am virtuellen EU-Gipfel über das eigentliche Streitthema gesprochen, nämlich über Ungarns und Polens Blockade beim Haushalt und dem Corona-Wiederaufbaufonds. Da redete man lieber über weniger verfängliche Themen, wie den Kampf gegen die Corona-Pandemie.

«Die Magie der Europäischen Union liegt darin, dass es ihr gelingt, Lösungen zu finden, selbst wenn man davon ausgeht, dass dies nicht möglich ist», beschwichtigte EU-Ratspräsident Charles Michel nach dem virtuellen Treffen. Aber was, wenn diese Magie aufgebraucht ist? Der Konflikt dreht sich um einen neuen sogenannten Rechtsstaatsmechanismus, der an EU-Haushalt und Corona-Fonds geknüpft ist. Ungarn und Polen müssen zu Recht fürchten, Anspruch auf EU-Gelder zu verlieren, wenn sie weiter den Rechtsstaat aushöhlen und die Gewaltenteilung infrage stellen.

Orban warnt vor «zweiter Sowjetunion»

Es gebe den Willen, in den kommenden Tagen sehr intensiv zu arbeiten, um eine Einigung beim Haushalt und dem Corona-Fonds zu erzielen, betonte Charles Michel. Beim Traktandum sollen nur Ungarns Regierungschef Viktor Orban und Polens Premier Mateusz Morawiecki das Wort ergriffen haben. Die EU werde zu einer «zweiten Sowjetunion», hatte Orban im Vorfeld den Sanktionsmechanismus attackiert. Polen werde sich als souveränes Land nicht der «politischen und institutionellen Sklaverei unterwerfen», warnte die rechtsnationale Regierung in Warschau.

Ob die Regierungschefs Ungarns und Polens mit ähnlicher verbaler Keule argumentierten, ist nicht durchgesickert. Unterstützung für Polen und Ungarn gab es noch vom Slowenen Janez Jansa, der zuletzt schon mit seiner Gratulation für «Wahlsieger» Donald Trump ausgeschert ist und die europäischen Partner verärgert hat. Aus dem Duo der Blockierer ist also ein Trio der Blockierer geworden. Im Sommer war die Einigung auf die 1,8 Billionen Euro für Haushalt und Corona-Fonds noch als historisch gefeiert worden.

Beim Streit um den Rechtsstaatsmechanismus geht es um das gemeinsame Fundament der EU: Die Mitgliedsländer finden sich zum digitalen Gipfel ein. 

Erstmals sollte Brüssel angesichts der Pandemie Schulden machen und wirtschaftlich besonders betroffene Staaten mit Krediten sowie Zuschüssen helfen können. Die EU verdoppelt für die nächsten Jahre praktisch ihr Budget. Die Niederlande und andere Nettozahler im Club setzten im Gegenzug den Rechtsstaatsmechanismus durch. Wenn die Regierungen in Warschau oder Budapest Richter auf Linie bringen, können diese nicht mehr unabhängig gegen Korruption und Missbrauch der Gelder vorgehen.

Nettozahler und EU-Parlament wollen nicht mehr zuschauen, wie Ungarn und Polen mit EU-Geldern den Rechtsstaat aushöhlen und die Demokratie untergraben. Andere Instrumente der EU, die Rechtsnationalisten auf dem Weg in die Autokratie zu stoppen, haben sich als stumpf erwiesen. Mit der Blockade schaden Ungarn und Polen zwar auch sich selber, die Länder gehören zu den grössten Nettoempfängern im Club. Aber Ideologie geht vor. Die Rechtsnationalisten setzen darauf, dass die europäischen Partner möglicherweise doch noch einknicken und den Sanktionsmechanismus entschärfen. Diese sprechen von Erpressung, mitten in der Notlage der Pandemie. Kein Wunder ist die Stimmung vergiftet.

Italien oder Spanien warten auf die Gelder

Auf die Gelder dringend angewiesen sind vor allem Italien oder Spanien, deren Wirtschaft wegen der Corona-Pandemie besonders stark eingebrochen ist. Italiens Regierungschef Giuseppe Conte oder Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez sollen sich bei der Videokonferenz jedoch nicht zu Wort gemeldet haben. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, sonst ein Freund klarer Worte, schwieg in der Runde. Man will nicht Öl ins Feuer schütten und hofft, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und die deutsche EU-Ratspräsidentin bei Verhandlungen hinter den Kulissen in den nächsten Tagen einen Ausweg finden.

Die Fronten sind allerdings verhärtet, der Spielraum klein: Die EU ist eine Wertegemeinschaft – oder sie ist es gar nicht. Es geht um das gemeinsame Fundament. Die Bruchlinien sind klar, verlaufen aber nicht zwischen Ost und West. Die Regierungen der Slowakei oder Rumäniens haben sich klar von der Blockade distanziert. «Alle Steuerzahler in den EU-Staaten sollten die Garantie haben, dass ihr Geld korrekt verwendet wird», sagte etwa Rumäniens Regierungschef Ludovic Orban.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Gemeinsamkeiten aufgebraucht sind.

Die Bruchlinie tangiert aber die Europäischen Konservativen (EVP). Sowohl Ungarns Viktor Orban also auch Sloweniens Janez Jansa gehören zur selben Parteienfamilie wie Angela Merkels Christdemokraten (CDU). Die Konservativen sehen sich traditionell als Gründer der EU, ein Ruf, der in Gefahr ist. Die deutsche Bundeskanzlerin ist auch deshalb gefragt, einen Ausweg zu finden. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Gemeinsamkeiten aufgebraucht sind.

«Das ist ein schon sehr ernsthaftes Problem, das wir zu lösen haben», sagte Merkel. Der Plan B wäre, den Corona-Fonds an den Blockierern vorbei ausserhalb der EU als internationales Abkommen oder in Form einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen 24 der 27 Mitgliedsstaaten zu organisieren. Der Weg ist rechtlich kompliziert, aber machbar. Es wäre ein Schritt hin zu einem Bruch der EU.

Ist in dem Streit als Vermittlerin gefragt: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. 

Während des virtuellen Gipfels haben die Staats- und Regierungschefs lieber über die Pandemie gesprochen und wie sie ihre Bemühungen noch besser koordinieren können. Hier gibt es immerhin einen Lichtblick: Zwei Impfstoffe könnten bereits im Dezember zugelassen werden, sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Entspannung verspricht sich die EU auch von Schnelltests, wo man sich aber noch auf einen gemeinsamen Rahmen für die Anerkennung einigen muss.

In der Pipeline ist zudem ein digitales Rückreiseformular, das Reisen einfacher machen soll. Um keine dritte Corona-Welle zu riskieren, sollen die Einschränkungen aber nur vorsichtig und schrittweise gelockert werden. Weihnachtsfeiern ja, aber im kleinen Rahmen. Selber wollen sich die Staats- und Regierungschefs im Dezember wieder treffen, dann aber physisch in Brüssel. Spätestens dann müsste die Blockade bei Haushalt und Corona-Fonds überwunden sein, wenn die Gelder im nächsten Jahr fliessen sollen.