Deutschland sperrt BudgetJetzt fehlen noch einmal 165 Milliarden – Koalition steht vor Zerreissprobe
Die Folgen des Gerichtsurteils von letzter Woche sind dramatischer als gedacht: Die Regierung verbietet darum vorerst alle neuen Ausgaben.
Es war fast schon Mitternacht, als der Schritt bekannt wurde, was dessen Drastik nur noch steigerte: Das deutsche Finanzministerium hat alle künftigen Ausgaben aller Ministerien und des Kanzleramts per sofort gestoppt. Ausgenommen sind lediglich laufende Verbindlichkeiten und Vorhaben der Verfassungsorgane Bundestag, Bundespräsident, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. Für Ausnahmen gelten strenge Regeln.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) reagierte mit der Notbremse auf ein spektakuläres Urteil des Bundesverfassungsgerichts von letzter Woche. Die Regierung muss offensichtlich erst einmal eine Übersicht gewinnen, welches Geld sie überhaupt noch ausgeben darf.
Auch der «Doppel-Wumms»-Topf fällt aus
Das höchste Gericht hatte entschieden, dass die Regierung die Schuldenbremse umgangen hatte, als sie beschloss, nicht aufgebrauchte Kreditermächtigungen von 60 Milliarden Euro aus der Corona-Zeit in einen Klima- und Transformationsfonds zu übertragen. Mit dem Geld sollte der grüne Umbau der deutschen Wirtschaft vorangebracht werden. Das Verfassungsgericht erklärte die Umwidmung nicht nur für «nichtig», sondern setzte maximal strenge Regeln für den künftigen Gebrauch jeglicher Sondervermögen fest.
Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck kam deswegen zur Einsicht, dass das Urteil nicht nur den Klima- und Transformationsfonds betrifft, sondern auch den sogenannten Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Auch dieser Schuldentopf mit Mitteln von ursprünglich 200 Milliarden Euro stammt aus den Zeiten der Pandemie und wurde nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 umgewidmet, um den notfallmässigen Umbau der Energieversorgung zu finanzieren.
Lindner: «Mit weniger Geld wirksamere Politik machen»
Milliarden aus dem Topf, von Kanzler Olaf Scholz (SPD) «Doppel-Wumms» genannt, flossen zuletzt vor allem in Massnahmen, mit denen die Regierung die drastisch gestiegenen Strom- und Gaspreise dämpfte. Dies dürfte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts nun nicht mehr möglich sein, meint Habeck. Die Schuld daran schob er der christdemokratischen Union zu, die in Karlsruhe geklagt hatte. Fachleute gehen davon aus, dass mit dem Urteil 165 Milliarden Euro aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds «untergegangen» seien.
Die neuen Einschätzungen haben zur Folge, dass Deutschland weder für das laufende noch für das kommende Jahr ein verfassungsgemässes Budget aufweist und sich dies erst wieder erarbeiten muss. Wie die Einschränkungen umgesetzt werden sollen, ist in der Regierung aber heftig umstritten. Finanzminister Lindner begrüsste das Urteil als Chance, «mit weniger Geld wirksamere Politik» zu machen. Neue Schulden oder Steuern schliesst er aus. Seine FDP schlägt dagegen vor, die Sozialausgaben zu kürzen.
Habeck: Es geht um den künftigen Wohlstand
Habeck wiederum wehrt sich gegen den Eindruck, es gehe hier nur um die Finanzierung grüner Lieblingsvorhaben. Vielmehr stehe die Zukunft der deutschen Industrie auf dem Spiel und mit ihr nichts weniger als der künftige Wohlstand des Landes. Die Vorstellung, ein bisschen Sparen hier, ein bisschen Umschichten dort könnte das Problem lösen, sei «nur Gerede».
Drei Lösungsansätze werden nun diskutiert.
Erstens: Die Schuldenbremse, die 2009 ins Grundgesetz geschrieben wurde, könnte gelockert werden, um mehr Investitionen in die Zukunft zu ermöglichen. Der Bundestag könnte, zweitens, für solche Aufgaben ausserhalb des ordentlichen Budgets neue Sondervermögen einrichten, um die Schuldenbremse legal zu umgehen. Oder die Regierung könnte, drittens, für dieses und für nächstes Jahr erneut aussergewöhnliche Notlagen ausrufen, die es ermöglichten, neue Schulden aufzunehmen, ohne die Schuldenbremse zu verletzen.
Für alle Regierungsparteien geht es bei der künftigen Verwendung der Mittel um Entscheidendes.
Viele bei SPD und Grünen sind für all diese Lösungen zu haben, bräuchten für die ersten beiden allerdings die Zustimmung von FDP sowie CDU/CSU. Beide Parteien haben dies aber bereits ausgeschlossen. Jüngste Äusserungen von Lindner lassen sich jedoch so deuten, dass er sich der erneuten Ausrufung einer Notlage, der dritten Lösung also, nicht in jedem Fall entgegenstellen würde. Unsicher ist nach dem jüngsten Urteil freilich, ob das Verfassungsgericht diesen Schritt akzeptieren würde.
Findet die Koalition nicht schnell eine gemeinsame Position, steht ihre Fortführung ernsthaft in Gefahr. Für alle Regierungsparteien geht es um Entscheidendes: für die SPD um die soziale Abfederung von Inflation und Rezession, für die Grünen um das Versprechen, Wirtschaft und Gesellschaft klimafreundlich umzubauen, und für die FDP, dafür weder auf höhere Schulden noch auf neue Steuern zurückzugreifen.
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