Wut über AstraZeneca-StoppDeutschland hat seinen Sündenbock gefunden
Vor Weihnachten galt Jens Spahn noch als beliebtester deutscher Politiker. Mittlerweile lastet man dem Gesundheitsminister jeden Fehler in der Corona-Politik persönlich an.
Montag war wieder mal so ein Tag. Da gab Jens Spahn bekannt, dass Deutschland das Impfen mit dem Vakzin von AstraZeneca vorsichtshalber aussetze, um einige tödliche Zwischenfälle zu untersuchen. Die Meldung kam vielerorts als Schock an.
Kaum hatte Spahn gesprochen, brannten den sozialen Netzwerken in Deutschland kollektiv die Sicherungen durch. Der Entscheid sei eine Katastrophe, wütete es vielstimmig, der Minister verantworte den Zusammenbruch der gesamten Impfstrategie. Spahn müsse sofort entlassen werden.
Kein Wort darüber, dass zuvor bereits ein halbes Dutzend anderer europäischer Länder die Impfung mit AstraZeneca ausgesetzt hatte. Dass der Schritt mit Frankreich und Italien abgestimmt war und ihm schnell weitere EU-Länder folgten. Dass es eine Vorsichtsmassnahme war, die nur vorläufig gelten sollte. Dass das für die Impfsicherheit in Deutschland zuständige Paul-Ehrlich-Institut die Aussetzung empfohlen hatte. Kein Wort darüber, dass Spahn sagte, er halte den Impfstoff grundsätzlich für sicher.
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Auch die Gegenfrage wurde nicht gestellt: Was wäre eigentlich los gewesen, hätte Spahn die Empfehlung seiner unabhängigen Fachleute in den Wind geschlagen und im Alleingang bestimmt, das Vakzin sei sicher?
So wie mit der schlechten Nachricht zu AstraZeneca ging es Spahn zuletzt praktisch jeden Tag. Was immer gerade ruckelt, stockt oder schiefläuft in der deutschen Corona-Politik – am Ende ist er schuld daran. Für diesen Unmut gibt es zum Teil Gründe: Der 40-jährige Gesundheitsminister hat selbstverständlich nicht alles richtig gemacht und trägt in einer Gesundheitskrise natürlich viel Verantwortung.
In vielerlei Hinsicht trägt die Abstrafung aber irrationale Züge. Für viele Versäumnisse, die Spahn angelastet werden, ist er gar nicht zuständig: Die Hoheit in Gesundheitsdingen liegt bei den 16 Bundesländern, sie müssen die Massnahmen umsetzen. Den Impfstoff beschaffte die EU-Kommission, die Bundesregierung verteilt ihn nur. Und einige Male wurde Spahn auch von Kanzlerin Angela Merkel oder dem Koalitionspartner SPD ausgebremst.
Der Absturz ist beispiellos
In Deutschland sind schon viele Politiker schnell aufgestiegen und noch schneller wieder gestürzt. Spahns Fall ist dennoch nahezu beispiellos. In den ersten Monaten der Pandemie avancierte er zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands. Vor Weihnachten rangierte er in einer Umfrage sogar vor Merkel. Im Geheimen sondierte er damals seine Chancen, sich anstelle von Armin Laschet zum Chef der CDU und danach zum Kanzlerkandidaten der Union küren zu lassen.
Zwei Monate danach steht scheinbar nur noch infrage, ob er zurücktreten oder ob Merkel ihn entlassen sollte, um die zusehends schärfer kritisierte Corona-Politik ihrer Regierung zu retten. (Die Kanzlerin, übrigens, denkt nicht daran.)
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Spahns Absturz ging mit der schleppend anlaufenden Impfkampagne einher und verschärfte sich, als auch die Einführung von Schnell- und Selbsttests langsamer vorankam als erhofft. In beiden Fällen wurde er, angetrieben von Kampagnen der politischen Gegner und mancher Medien, geradezu zum Gesicht des angeblichen «Debakels». Dabei steht Deutschland bei den meisten Aspekten der Krisenbewältigung eher besser da als die anderen europäischen Länder.
Natürlich hat Spahn auch Fehler gemacht: Im Bemühen, stets Entschlossenheit auszustrahlen, versprach er verschiedentlich mehr, als er danach halten konnte. Auch die von seinem Ministerium entwickelte Corona-App ist nahezu nutzlos.
Dann noch private Patzer
Dazu kamen private Patzer. Zusammen mit seinem Mann Daniel Funke kaufte Spahn mitten in der Krise in Berlin eine herrschaftliche Villa, wollte den Medien aber verbieten, über den Millionenkaufpreis zu berichten. An einem Morgen im letzten Oktober trat er im ZDF auf und bat die Bürger, sich bei privaten Festen und Feiern künftig zurückzuhalten. Am Abend traf er sich mit einem Dutzend Unternehmern zum Essen. Am nächsten Tag wurde bekannt, dass er sich mit Corona infiziert hatte.
In beiden Fällen tat Spahn nichts Verbotenes, bei dem Essen steckte sich auch niemand an. Aber ausgerechnet Spahn, der immer von Offenheit und Integrität spricht, erwies sich in den Augen der Öffentlichkeit als einer, der Wasser predigt und Wein trinkt.
Schon sehr früh in der Krise hatte Spahn einen weitsichtigen Satz gesagt: «Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.» Der Satz war auch deswegen klug, weil er den Warner selbst vor künftigen Schuldzuweisungen in Schutz nehmen sollte. Spahns politische Selbstimmunisierung, so viel steht nun fest, ist spektakulär gescheitert.
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