Deutscher Lokführer-Boss im Interview «Ich ziehe den Hut vor den Leistungen der Schweiz»
Claus Weselsky, streitbarer Chef der Lokführergewerkschaft, lobt den Schweizer Bahnverkehr und die SBB. Personenschutz braucht er trotz Bahnstreiks keinen.
Claus Weselsky, Vorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), verhandelt wieder mit dem Vorstand der Deutschen Bahn über einen neuen Tarifvertrag für Lokführer in Deutschland. Vorausgegangen war ein sechstägiger Streik, der längste in der Geschichte der deutschen Eisenbahn. Vom 5. Februar bis zum 3. März haben die Verhandlungspartner eine Friedenspflicht vereinbart, die weitere Streiks ausschliesst. (Lesen Sie weiter: Deutscher Lokführer-Boss: Verhandeln? Lieber streikt er)
Während dieser Zeit sollen keine Informationen über den Stand der Verhandlungen nach aussen gelangen. Daran hat sich Weselsky im Interview gehalten. Wir haben ihn gefragt, ob die Vorstandsmitglieder der Deutschen Bahn ihre Gehälter wert sind, wen er lieber austauschen würde: deutsche Verkehrspolitiker oder den Vorstand der Deutschen Bahn, und ob er sich in seinem Heimatland noch frei bewegen kann oder Angst um sein Leben haben muss. Dem aktuellen Streik ist nämlich vieles schon vorangegangen.
Herr Weselsky, Sie verhandeln mit Martin Seiler, der im Vorstand der Deutschen Bahn für Personalthemen zuständig ist, über einen neuen Tarifvertrag für Lokführer. Seiler bekommt zum Gehalt für 2022 einen Bonus von 736’000 Euro. Hat er sich das verdient, oder sind Sie verärgert über den Bonus, mit dem eine besondere Leistung gewürdigt werden soll?
Das ist ganz klar viel zu viel Geld für die Leistung, die er abliefert – und nicht nur er, sondern alle Vorstandsmitglieder der Bahn. Selbst während der Corona-Pandemie, als die Züge fast leer waren, wurden Zulagen ausbezahlt. Dafür wurden Tricks und Kniffe angewandt, um die Auszahlung für die rund 3500 bezugsberechtigten Führungskräfte bei der Bahn möglich zu machen.
Mit dem Streik der Lokführer schaden Sie der Bahn und den Beschäftigten, weil er zum Verlust von Einnahmen und Fahrgästen führt. Machen Sie Ihren Job richtig?
Weniger Fahrgäste liegen nicht allein in unserem Zuständigkeitsbereich. Politiker stellen die Eisenbahn gerne als zuverlässig dar. Politiker haben aber die Privatisierung der Deutschen Bahn beschlossen mit all den negativen Folgen, die wir ertragen müssen. Die Frage, ob es überhaupt zum aktuellen Tarifkonflikt mit Streik kommen musste, beantworte ich mit Nein.
Warum?
Wir erleben heute eine Wiederholung vorheriger Auseinandersetzungen, weil der Vorstand der Bahn beratungsresistent ist und deshalb keine Lernkurve hat. Wir streiten und streiken stets um dieselbe Frage: Bekommen wir mit unseren Tarifverträgen auch künftig noch ausreichend Mitarbeiter in den Loks, den Wagen, an den Gleisen, in den Werkstätten und in der Verwaltung?
Die Bahn will ihr grosses Problem anpacken und ihre Infrastruktur ausbauen. Jetzt fehlen Milliarden Euro im Bund. Deshalb werden Neubauprojekte gestoppt und vorrangig das Netz saniert. Hilft das?
Nicht nur wir, sondern alle Interessenverbände auch im europäischen Personen- und Güterverkehr kämpfen schon lange darum, dass losgelöst vom Bahn-Konzern unter einer strafferen, einheitlichen Zielsetzung und Führung durch das Verkehrsministerium oder eine andere Institution die Infrastruktur nicht nur mit Neubaustrategien beglückt, sondern das vorhandene Netz so ertüchtigt wird, dass Züge pünktlicher fahren können. Grossprojekte verschlingen Milliarden. Sogenannte kleine Ertüchtigungen, die schon viel helfen können, wie hier oder dort zehn Kilometer zwei- oder dreigleisig auszubauen, um Engpässe zu vermeiden, werden in den Hintergrund geschoben. Das passiert, weil nicht unbedingt Fachleute über die Infrastruktur entscheiden.
Gefährden Sie mit dem Arbeitskampf eine Besserung bei der Bahn nicht zusätzlich, wenn sich der Vorstand mit Streikschlichtung beschäftigen muss, anstatt die Probleme mit der Pünktlichkeit zu lösen?
Niemand zwingt das Management der Deutschen Bahn dazu, aus Fehlern nicht zu lernen, nicht zu wissen, dass sie sich mit den Lokführern und dem Zugpersonal besser nicht anlegen sollten – und in der Öffentlichkeit so zu tun, als seien wir nicht verhandlungsbereit. Würde der Bahnvorstand aus der Vergangenheit lernen, hätten die Arbeitskämpfe auch in den vergangenen Jahrzehnten vermieden werden können. Alle unsere Streiks haben nichts damit zu tun, dass das Missmanagement des Vorstands unsere Eisenbahn kaputt gemacht hat.
Mit was haben sie denn zu tun?
Diesen Niedergang hat nicht das streikende Zugpersonal zu verantworten, sondern ein Management, das keine Ahnung vom Bahnsystem hat und das im Prinzip machen kann, was es will. In Deutschland gibt es kein Bundesamt für Verkehr wie in der Schweiz, das ganzheitlich den öffentlichen Verkehr betrachtet. Unser Verkehrsministerium lässt sich eher lobbyieren von Beratungsunternehmen, anstatt selbst eine langfristige Strategie für unser Eisenbahnsystem zu entwickeln.
Für die Schweiz ist die Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn eine grosse Herausforderung, weil sie den Takt der Züge durcheinanderbringt. Wie könnte es die Deutsche Bahn schaffen, ein zuverlässigerer Mobilitätsanbieter zu werden?
Als Erstes ziehe ich den Hut vor der Leistung der Schweiz, einen Taktverkehr geschaffen zu haben, der ein vorbildliches Gesamtsystem des öffentlichen Verkehrs abbildet. Das wäre auch in Deutschland möglich, wenn wir uns endlich dazu aufmachen würden, nicht mit Sonntagsreden von Politikern die Tage zu vergeuden, sondern Fakten zu schaffen. Ein Eisenbahnsystem lebt von langfristigen, planerischen Entscheidungen, die auch halten und stehen müssen. Es macht keinen Sinn, lange Linien vorauszuplanen, wenn das Geld dafür fehlt. Deswegen fordern viele und auch wir einen Investitionsfonds ähnlich dem in der Schweiz für die Infrastruktur und – wie bereits gesagt – eine Trennung zwischen Bahnbetrieb und Infrastruktur. Ansonsten besteht permanent das Problem, wie aktuell bei DB Cargo, dass die EU sagt, es würden unberechtigt Steuergelder in die Bahn fliessen als Beihilfen in die Transportgesellschaft.
Weshalb funktioniert das System Bahn in der Schweiz so viel besser als in Deutschland?
Die Schweiz hat die Kunst hinbekommen, das System SBB so zu gestalten, dass die Infrastruktur mit anderen Zielvorgaben geführt wird als die Eisenbahnverkehrsunternehmen. Und das Land war auch so clever, einen CEO wie Andreas Meyer, der sich dem entgegenstellte, auszuwechseln und mit jemandem zu ersetzen, der Eisenbahn von der Pike auf gelernt hat und sie versteht. Seit Jahrzehnten ist das in Deutschland nicht möglich.
Mit welchen Folgen?
Das ist ein wesentlicher Grund, weshalb wir nicht aus dem Abwärtsstrudel herauskommen. Unser Verkehrsminister ist auch eher unwillig, solche mutigen Personalentscheidungen zu treffen. Deshalb ist die mit grossem Pomp gefeierte Infra-GO, das seit Ende 2023 bestehende Infrastrukturunternehmen der Bahn, ein Placebo. Da bekommen die beiden bestehenden Organisationen DB Netz und DB Station & Service einen zusätzlichen Overhead, um die Schnittstellenproblematik zu lösen – und keiner macht sich die Mühe, zusammenzuführen, was für einen normal denkenden Menschen zusammengehört und nie hätte auseinandergerissen werden dürfen: das Gleis und der Bahnhof. Diese Aufspaltung machte es beim Börsengang möglich, Bahnhöfe zu verscherbeln und damit Gewinne ausweisen zu können.
Wen würden Sie lieber auswechseln: deutsche Verkehrspolitiker oder die Geschäftsleitung der Bahn?
(lacht laut) Das ist eine interessante Frage. Der richtige Prozess beginnt mit dem Auswechseln der Personen auf der Vorstandsebene der Deutschen Bahn und dem Rückgängigmachen der gesellschaftsrechtlichen Abspaltung der Infrastruktureinheiten.
Reden Sie über solche Abspaltungen auch mit den Schweizer Gewerkschaftskollegen?
Wir tauschen uns inhaltlich intensiv aus, weil ich in der Schweiz teilweise Entwicklungen sehe, die bei uns fünf bis acht Jahre vorher schon gelaufen sind. Dazu zählt die Aufteilung auf die unterschiedlichen Transportbereiche. Es muss kein anderes Land die Fehler wiederholen, die wir womöglich schon gemacht haben. Wir sind oft Jahre früher voraus, leider häufig in die falsche Richtung.
Sie nehmen streitbare Positionen ein und machen sich damit nicht nur Freunde. Brauchen Sie Personenschutz?
Nein, brauche ich nicht. Denn die von Medien veröffentlichte Meinung ist nicht deckungsgleich mit der öffentlichen Meinung. Ich bewege mich mit der Eisenbahn durch Deutschland, auch während heisser Verhandlungsphasen, und habe nicht das Gefühl, dass ich beschützt werden muss. Der überwiegende Teil der Menschen begegnet mir freundlich und anerkennend unter der Massgabe: Wir wünschen uns auch einen solch streitbaren Gewerkschaftschef, der konsequent die Interessen seiner Mitglieder vertritt. Genau das ist meine Aufgabe.
Einige hässliche Mails werden Sie wohl auch bekommen?
Natürlich. Und viele mit der zusammengefassten Betreffzeile: «Unpünktlich, unzuverlässig, und jetzt streikt ihr auch noch!»
Wie gehen Sie persönlich mit solcher Belastung um?
Das erfahre ich zum wiederholten Male und kann auch deshalb gut damit umgehen. Die entscheidende Komponente für mein Handeln sind unsere Gewerkschaftsmitglieder, und solange die zu uns stehen, müssen wir auch keiner Auseinandersetzung – die übrigens nie allein von einer Seite provoziert wird – aus dem Wege gehen.
Dieser Artikel stammt aus dem Verkehrsmonitor
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