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Kommentatoren-Legende Marcel Reif im Interview
Marcel Reif: «Zurzeit habe ich ein Problem mit diesem Deutschland.»

Football presenter Marcel Reif photographed during the Switzerland-Hungary match at the European Championship 2024, Wirtshaus am Bavariapark, Munich, Germany, June 15, 2024.
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Ein Samstagnachmittag in München. Wir haben eine Verabredung mit der Kommentatoren-Legende Marcel Reif (74). Zusammen wollen wir Fussball schauen, Reif ist in Deutschland aufgewachsen, hat später rund 25 Jahre lang in Rüschlikon gewohnt und ist seit 2013 Schweizer, seine beiden jüngeren Söhne sind FCZ-Fans.

Reif arbeitet mittlerweile bei der deutschen «Bild»-Zeitung. In der Schweiz ist er als Champions-League-Experte für Blue tätig. Der Liebe wegen wohnt er nun in München. Wir wollen mit ihm über sein Leben zwischen diesen Orten sprechen – und das an einem der politischsten Orte in Bayern, in einem Wirtshaus. 

Herr Reif, werden Sie jedes EM-Spiel schauen? 

Ich hoffe nicht. Aber ich möchte es nicht ausschliessen. Ich schaue zu viel Fussball.

Laut Ihrer Ehefrau?

Laut Verstand.

Sie haben nach über 20 Jahren die Schweiz verlassen. Wenn Sie entscheiden könnten, wo würden Sie leben?

Zurzeit habe ich ein Problem mit diesem Deutschland. Dieses Problem wird jeden Tag grösser. Der Spruch, den Herr Sarrazin geprägt hat, «dieses Land schafft sich ab», stimmt. Gestern hab ich, wie so oft, ein selbst gemachtes Chaos auf dem Münchner Flughafen erlebt. Am Vortag hat mich der Flughafen in Berlin drei Stunden «Geisel» genommen. Meine Frau hat gleichzeitig eineinhalb Stunden Zugverspätung gehabt auf einer Strecke, die nicht viel länger dauert. Ihre Frage erwischt mich in einem falschen Moment.

Sie wollen weg?

Nach meiner Ankunft habe ich mit meiner Frau gefrühstückt. Ich hab sie mit feuchten Kuhaugen angeguckt und gesagt: «Können wir nicht endlich weg? In Zürich gehen alle Züge auf die Minute – und der Flughafen ist genauso weltangebunden wie der in München.»

Und was gab Ihre Frau – eine ehemalige CSU-Staatsministerin – zur Antwort?

Sie sagt: «Ich überlege es mir.» – «Wann?», frage ich. «Ja, bis 2027 muss ich hier ja noch arbeiten.» – «Das Problem ist, dann bin ich unter den Radieschen», habe ich geantwortet. 

Was ist an der Schweiz, an Zürich, so viel besser?

Die Leute lassen einen in Ruhe. Zürich ist eine wunderschöne Stadt, die man sich leisten können muss. Aber damit würde ich mir Lebensart und Lebensfreude kaufen, was mir hier beides, und München ist auch nicht umsonst, zunehmend abhandenkommt.

Was nervt noch – ausser Verspätungen?

Der Dreck. Wir wohnen in einer der teuersten Wohnanlagen Deutschlands, den Lenbachgärten, welche in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof sind. Gegenüber von uns gibt es eine Tafel, die Abtei verteilt Essen. Dafür bin ich dankbar. Aber daraus resultiert eine Magnetwirkung zwischen Bahnhof und dieser Abtei. Das Ganze führt zu einer Verslumung: Drogenhandel, sogar eine Vergewaltigung – mitten in München. Zudem eben: die ganz normalen Dinge, die nicht mehr im Land funktionieren, die Infrastruktur – von der S-Bahn bis zum Fernverkehr, ein einziges marodes Netz. All das zeigt mir: Die Politik ist zu weit weg von den Problemen der Menschen.

Football presenter Marcel Reif photographed during the Switzerland-Hungary match at the European Championship 2024, Wirtshaus am Bavariapark, Munich, Germany, June 15, 2024.

Waren solche Dinge der Grund dafür, dass Sie 2013 ihren deutschen Pass abgegeben haben?

Den habe ich abgegeben, weil ich fand, zwei zu haben – das ist schwachsinnig. Ich bin nicht James Bond. Und für mich war klar, dass ich in der Schweiz bleibe.  

Ihnen hat Fritz Walter – seit dem WM-Sieg in Bern die allererste deutsche Fussball-Ikone – das Du angeboten. Was hätte er gesagt, wenn Sie ihm erzählt hätten, dass Sie kein Deutscher mehr sind?

Oh, jetzt kommt die Patriotismus-Keule? Ich habe mich nie rein deutsch gefühlt, nie rein schweizerisch, nie rein polnisch gefühlt – dort wurde ich geboren. Ich habe mich, darüber werden wir später bestimmt noch reden, nie rein israelisch gefühlt. Ich verorte Heimat nicht auf Landkarten und Pässen, sondern über Beziehungen, Menschen, Begegnungen.

Sie sind uns noch eine Antwort schuldig: Was hätte Fritz Walter gesagt?

«Warum, Marcel?»

Und dann?

Ich hätte gesagt: «Schau, Fritz, weil ich damals dort lebte.» Als ich 2013 Schweizer wurde, hatte ich 16 Jahre in der Schweiz gewohnt. Das war keine Übersprungshandlung. Die Geschichte taugt nicht für «Vaterlandsverrat». Sie müssen auch wissen: Dieses Schweizerwerden hatte eine emilhafte Genese.

… also wie beim Kabarettisten Emil Steinberger.

Ja, ich komme zur Gemeinde, da sitzen meine Prüfer. Was habe ich gepaukt die Wochen davor! AHV, jeden Scheiss – und es gab zuvor ein Stühlerücken im Bundesrat. Und ich dachte, «Nein, das muss doch nicht sein», und hab mir die neuen Posten reingepaukt: «Verschtönd sie Schwizerdütsch?», fragt der Prüfer. «Momol», sage ich. «Ja ja gut, dänn isch ja d’Sprach keis Thema.» Und dann: «Was gfallt Ihnä in Rüeschlikä?», ich beantworte es ihm. «Und was gfallt Ihne nöd?» «Na ja, der katholische Pfarrer läutet nachts alle Viertelstunde die Kirchglocke – und die Post kommt erst um 14 Uhr.» Darauf sagt eine der Gemeinderätinnen zu ihm: «Das habe ich dir auch gesagt – und der Pfarrer, das geht mir auch auf den Senkel.» Und am Ende sagten sie: «Alles guet, en Schöne.» An der Tür drehe ich mich noch mal um und frage: «Dürfte ich noch alle Bundesräte aufsagen?» Ich glaube, ich war der Einzige im Raum, der das fehlerfrei konnte.

Für welches Land schlägt Ihr Herz am Sonntag beim Spiel Schweiz gegen Deutschland?

Ich werde mit dem Verlierer trauern und das entsprechend kritisch beäugen und nach Gründen suchen. Dass Deutschland Favorit ist und die Schweiz immer den kleinen David-Bonus behalten wird, das liegt in der Natur der Sache bei einem Zehntel der Bevölkerung.

Gespanntes Schauen: Rechts hinten redet Reif mit unserem Reporter im Münchner Wirtshaus, ein Auge immer auf den Bildschirm gerichtet.

Reif vermutet eine Niederlage der Schweiz gegen die Ungarn. Das Spiel geht jeden Moment los – schlechtes Timing: Zum Anpfiff wartet der politische Teil des Gesprächs auf uns. Reif hielt im Februar eine Rede im Bundestag, Anlass war das Gedenken an die Befreiung der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz. Die Rede rührte das ganze Parlament. Reif erzählte von seiner jüdischen Identität, wie es war, im «Land der Täter» aufzuwachsen.

Auf Ihre Rede gab es gewaltige Reaktionen. Sie haben Politikerinnen wie Annalena Baerbock zum Weinen gebracht, im Plenarsaal.

Das war nicht die Idee.

Sogar die AfD hat geklatscht.

Sie sind auch aufgestanden. Das war meine Frage an die Bundestagspräsidentin am Tag vor der Rede: «Was ist, wenn die AfD …» Sie unterbrach mich und sagte: «Die sind zu schlau. Sie werden sich benehmen.»

«Sei ein Mensch», ein lebenslanger Rat Ihres Vaters, eines Holocaust-Überlebenden, sein Vermächtnis, ist der zentrale Satz Ihrer Rede gewesen. Was haben Sie empfunden, als die AfD applaudiert hat?

Wenn sie nicht geklatscht hätten, hätten sie ein Statement abgegeben, und das wäre mir noch lieber gewesen. So ist ja auch der Herr Höcke mein Lieblings-AfDler. Warum? Weil ich denke, «gib mir noch nen Halbsatz, und wir kriegen dich». Das sind nicht alles Nazis, aber das war nicht mein Publikum.

In der Schweiz heisst es oft, die AfD und die SVP könne man nicht vergleichen. Sie kennen beide Länder. Stimmt das denn?

Die AfD in Deutschland bedient Dinge, die man in Deutschland nie wieder hätte bedienen dürfen. Da dies lange zugelassen wurde und sich jetzt etabliert hat, müssen wir nun mit ihnen umgehen. Und was ich in der Schweiz von den SVPlern gehört habe? Da dachte ich oft «Leute – das ist so kleines Karo. Und so was ist mehrheitsfähig?» Aber durch die Geschichte Deutschlands ist es anders zu bewerten.

Ist Ausländerfeindlichkeit nicht Ausländerfeindlichkeit?

Ja, aber die Schweiz hat eine bessere Einwanderungspolitik, und die Dinge funktionieren besser als in diesem Land. Deutschland hat sich übernommen. Die Schweiz lässt nur so viel rein, wie sie ertragen kann. 

Das sieht die SVP anders, früher warnten sie vor der 9-Millionen-, nun vor der 10-Millionen-Schweiz. 

Und vor den Minaretten – mich haben die SVP-Wahlplakate immer fasziniert, wenn ich aus Rüschlikon nach Zürich reingefahren bin, kurz vor Ende des Sees. Ich glaubte immer, es gibt eine Ausstellung: «Wahlplakate der Weimarer Republik». Wirklich so scherenschnittartig: Burka, Minarette, schwarze Schafe. «Ihr habt sie nicht alle», dachte ich dann.

Football presenter Marcel Reif photographed during the Switzerland-Hungary match at the European Championship 2024, Wirtshaus am Bavariapark, Munich, Germany, June 15, 2024.

Beide Parteien, SVP und AfD, treffen sich im Rassismus?

In der Tendenz, ja. Es gibt Punkte, die im Jahre 2024 manchmal nachvollziehbar sind in der spontanen Reaktion, aber nicht als politische Konstante. Also ich verstehe, wenn ein Mensch sagt, ganze Stadtviertel sind nicht mehr schweizerisch oder deutsch – und die gibt es; in der Schweiz nicht so sehr wie in Deutschland. Das habe ich in Köln bereits vor 30 Jahren erlebt, dass aus dem Multikulti Istanbul wurde. Das kann nicht funktionieren. Dennoch kann die Politik nicht sagen: «Das liegt am Minarett, an der Burka und am Schaf.» Vielmehr müssen wir lenken, führen, weisen – und zwar mit politischer Macht.

Im Gegensatz zur AfD ist die SVP … 

… viel holzschnittartiger – aber das Schlimme ist, das spricht gar nicht gegen diese Partei, es spricht gegen ihr Bild von ihren Wählern: Für wie doof hält die SVP diese Menschen? Sie nutzt hemmungslos die Ängste vieler Menschen vor Fremdem.

Die Partei hat damit Erfolg.

Und das macht mir auch Angst.

Sie sagten einmal: «In Zürich ist der Böögg das höchste an Radau, was man sich leistet.» Ist das mit dem Blick auf die SVP nicht ein Klischee?

Wenn ich manche Sprüche der SVP höre, schüttle ich den Kopf. Noch funktioniert dieses Land im täglichen Leben aber nicht nach diesen Sätzen, ist weltoffen, so gut es geht – trotz SVP.

Football presenter Marcel Reif photographed during the Switzerland-Hungary match at the European Championship 2024, Wirtshaus am Bavariapark, Munich, Germany, June 15, 2024.

Die Schweiz schiesst das 1:0 gegen Ungarn. «Super gespielt!», «Schwiiz!», ruft Reif. Kurz vor dem Tor sagte Reif: «Die Schweiz ist im Spiel.»

Wie stark beachten Sie den Kommentator während eines Spiels?

Gewöhnlicherweise höre ich nicht hin. Er muss mich schon richtig erwischen an einer Stelle, wo ich sage: «Hä? Was redet der denn?»

Wieso korrigieren sich Fussballkommentatoren nicht, wenn sie eine Szene falsch eingeschätzt haben? 

Ich habe das ein Leben lang getan. Heute wollen die Kollegen fehlerlos sein – die Angst vor den sozialen Medien hat zugenommen. Daher bewerten manche gar nicht mehr, sondern beschreiben nur mehr, weil sie Angst haben, sich zu positionieren. 

Football presenter Marcel Reif photographed during the Switzerland-Hungary match at the European Championship 2024, Wirtshaus am Bavariapark, Munich, Germany, June 15, 2024.

Ist haltungslos zu kommentieren ein Trend?

Ja, ich fürchte, es wird flacher. 

Schweizerinnen und Schweizer finden oftmals die deutschen Fussball-Kommentatoren besser und schauen dort, warum?

Das ist ein mit Vorurteilen zelebrierter Minderwertigkeitskomplex. Ihr Deutschen mit eurer Sprache, ihr seid viel schneller, viel besser, heisst es oft. «Hä?», sag ich, «was ist denn an eurem Zürideutsch schlecht?» 

Woher kommt der Komplex?

Da bin ich überfragt, es ist eine nicht nachvollziehbare Überhöhung.

Ist das lösbar?

Beim Kommentieren, ja. Warum alle hier immer auf Hochdeutsch kommentieren müssen – das habe ich nie verstanden, ist Unsinn. Ich habe bei Blue schon mehrfach angeregt, Schweizerdeutsch zu sprechen, aber daran werde ich scheitern. Warum muss ein Schweizer Kommentator in einer Fremdsprache sprechen – und es ist eine Fremdsprache.

Die Schweiz gewinnt am Ende 3:1 gegen Ungarn. Reif ist überrascht und beeindruckt von der Leistung des Schweizer Teams. Zum Abschluss spielen wir noch ein Spiel mit ihm, das er von seinem Arbeitgeber, der «Bild», kennt – ein Format namens «Stimmt oder Stuss?» Nur Ja- oder Nein-Antworten sind erlaubt. 

Die AfD und die SVP – ist eigentlich einerlei.

Ja, stimmt.

Marcel Reif verbringt seinen Lebensabend in der Schweiz. 

Eher ja, aber nur, weil ich bei der Entscheidung nicht alleine auf der Welt bin – meine Frau ist die Chefin.

Marcel Reif holt sich den deutschen Pass zurück. 

Nein.

Die Schweiz wird Europameister.

Nein.

Deutschland wird Europameister.

Eher ja.

Die Schweiz diskutiert wieder über den Doppeladler.

Nein.

Deutschland über die politische Haltung seines Teams.

Nein, Fussballgott sei Dank, Nein.

Die Schweiz gewinnt ihr EM-Spiel gegen Deutschland.

Nein. Deutschland siegt 2:1.