Schweizer Traumstart Und der Gewinner heisst Murat Yakin
Der Schweizer Coach findet im richtigen Moment zur Bestform – und zaubert mit Aebischer und Duah unerwartet zwei Spieler in die Mannschaft, die wesentlich zum 3:1 gegen Ungarn beitragen.
Und jetzt? Schon ein wenig vorwärtsschauen und gar von Grossem träumen?
«Wir geniessen den Moment», sagt Murat Yakin, das 3:1 zum Start der EM gegen Ungarn ist jetzt eine gute Stunde alt, «und wir schauen von Spiel zu Spiel.» Die Antwort des Schweizer Nationaltrainers ist alles andere als prickelnd. Aber sie hilft, den Fokus nicht zu verlieren. Darum sagt Yakin auch: «Wir haben noch viel Arbeit vor uns.»
Der Schweiz gelingt vor fantastischer Kulisse im Kölner Stadion eine erste Halbzeit, die alle Zweifel der letzten Tage, Wochen und Monate wegwischt. Und die noch einen schönen Nebeneffekt hat: Die ersten drei Punkte sind bereits ein mächtiger Schritt, um das Minimalziel an diesem Turnier zu erreichen – die Achtelfinals.
Murat Yakin I: Ein schönes Stück an Genugtuung
Seit der 49-Jährige Nationaltrainer ist, hat es die Kritik mit ihm nicht nur gut gemeint. «Das ist vorbei, es geht vorwärts», sagt er im Rückblick. Der Druck auf ihn ist gross vor diesem Match gegen Ungarn: Findet er endlich die Formel, um eine Offensive zum Leben zu erwecken, die seit längerem harmlos ist?
Als die Aufstellung bekannt wird, ist die Verblüffung gross: Kwadwo Duah darf den Sturm anführen, Dan Ndoye spielt auf einmal rechts, dafür besetzt seine Position auf links Michel Aebischer. Läuft er Gefahr, sich zu verpokern wie an der WM 2022 im Achtelfinal gegen Portugal? Nein, sagt er, er spiele keinen Poker. Er zieht Schach vor. Weil er die Figuren selbst kontrollieren kann.
Seine Taktik funktioniert vom ersten Moment an. Nach einer Viertelstunde spielt Aebischer den Ball in die Tiefe, Duah dankt für die perfekte Vorarbeit mit dem 1:0. Das Schicksal meint es gut mit Yakin, und es meint es noch besser, als Aebischer Sekunden vor der Pause aus knapp zwanzig Metern den Ball zum 2:0 ins Tor dreht.
Sind Sie der Gewinner des Tages?, wird Yakin später gefragt. «Ich vertraue mir selber», beginnt er seine Antwort, bevor er seine Mitarbeiter lobt und davon redet, man müsse eben daran glauben, ein Spiel gewinnen zu können. Eines gibt er doch zu: «Klar ist das eine Genugtuung.» Kaum aber gesagt, schwächt er wieder ab: «Meine Person ist unwichtig.»
Murat Yakin II: Der Kniff, der Ungarn verwirrte
Die Planspiele von Yakin gehen auf, weil er Marco Rossi damit auf dem falschen Fuss erwischt. Der italienische Trainer der Ungarn räumt ein, er sei sich dieser Wechsel bei den Schweizern nicht bewusst gewesen. «Und dann hatten wir den Salat», sagt er mit angesäuerter Miene.
Dan Ndoye stellt Yakin auf rechts, um mehr Gleichgewicht zu bekommen und nicht alles nur über die linke Seite laufen zu lassen. Zumal sich Ndoye rechts wohler fühle, sagt Yakin. Für diese Erkenntnis hat er die vier Testspiele des Jahres gebraucht.
Dafür ist es dann allen voran Michel Aebischer, der zum Stolperstein für die Ungarn wird. Mal für Mal zieht er von der Seite in die Mitte, um das Zentrum mit Xhaka und Freuler zu stärken. Yakin hat sich auch darum für ihn entschieden, weil er die formstärksten Spieler auf dem Platz haben will. Aebischer kommt aus einer «super Saison« (Yakin), die ihn mit Bologna direkt in die nächste Champions League geführt hat.
Nach der Pause verliert das Spiel der Schweizer an Dominanz, Yakin ist damit «nicht so happy». Die Ungarn haben sich besser auf sie eingestellt, Varga, der Stürmer mit dem schönen Vornamen Barnabas, vergibt eine erste grosse Chance und nutzt die zweite zum Anschlusstor. Aebischer sieht im direkten Zweikampf mit ihm denkbar schlecht aus.
Danach müssen die Schweizer leiden, aber sie brechen nicht zusammen. Anders als in der Qualifikation, als sie so viele späte Tore zuliessen, treffen sie spät. Breel Embolo gelingt das 3:1 – es ist sein erstes Länderspielgoal seit dem Match gegen Serbien an der WM 2022.
Und jetzt warten die Schotten, die zum Auftakt von Deutschland demontiert und 5:1 besiegt worden sind. «Hoffentlich reagieren sie darauf nicht zu sehr», sagt Xhaka.
Granit Xhaka: Der Chef, der in Nettetal gereift ist
«Endlich beginnt es morgen», hat Granit Xhaka am Vorabend gesagt, «wir wollen endlich ein Zeichen setzen.»
Und der Mann mit dem unbändigen Selbstvertrauen geht auf dem Platz voran. Wer in Köln im Stadion ist, spürt seine Präsenz und Ausstrahlung noch besser als daheim vor dem Fernseher. Der Captain ist das Zentrum und Kraftwerk und fühlt sich wohl in dieser Rolle, weil er genau sie haben will.
Er hilft, wo er kann, ohne dass er einen unbedachten Schritt einstreuen würde. Seine Bewegungen folgen einem Plan: Er will nicht nur das Spiel diktieren, er will auch helfen, wenn er es für nötig hält. Seit er beim SC Union Nettetal aus der Oberliga Niederrhein an der Trainerlizenz arbeitet, hat sich sein Spiel verändert. Sagt er selbst. Er versteht das Spiel besser, er schaut weiter voraus als nur auf den nächsten Pass oder Zweikampf.
Seit kurzem besitzt er den A-Schein, «darauf bin ich stolz», sagt er. Aber als Trainer sieht er sich noch lange nicht. Zu gern steht er auf dem Platz. Auf dem Weg zum Double mit Bayer Leverkusen kam er auf die meisten zurückgelegten Kilometer und eine Passquote von 93 Prozent. Auf dem Weg zum 3:1 gegen Ungarn spielt er 99 Pässe, mit Abstand am meisten. In keinem Moment ist ihm anzumerken, wie belastend diese Saison mit 50 Einsätzen für den Club und auch schon elf für das Nationalteam gewesen ist.
Xhaka kann das wegstecken. Er ist austrainiert, und dass er das ist, ist kein Zufall, sondern Konsequenz seiner Professionalität. Vor vier Jahren erklärte ihm Mikel Arteta, um stabil und robust zu bleiben, müsse ein Spieler seinen Körperfettanteil jedes Jahr um ein Prozent reduzieren. Xhaka hält sich an den Rat seines damaligen Trainers bei Arsenal.
Bei der Schweiz stellt er nun einen Konkurrenzkampf fest, der allen guttue. Im Rückblick stellt er fest, dass die leistungsmässig missratene Qualifikation der Mannschaft sogar «gutgetan» habe: «Ich weiss nicht, ob wir zu bequem geworden waren. Aber seither sehen wir eine andere Mannschaft auf dem Platz. Die Trainings sind intensiver.» Und der erste Ertrag ist dieses 3:1.
Breel Embolo: Entfesselt Richtung Tor
Er sprintet in Richtung Siegsicherung. Und plötzlich flattert etwas an seinem Bein, löst sich, wird genau so zurückgelassen wie alle ungarischen Gegenspieler. Für alle, die nicht in der Gesundheitsbranche zu Hause sind, liefert Breel Embolo später noch den Fachbegriff nach. «Eine Kompressionshose» hat er auf dem Weg zum 3:1 verloren. Tragen muss er sie wegen muskulärer Probleme am Oberschenkel.
Er müsse wohl noch mit demjenigen schimpfen, der ihm das Ding montiert habe, drohte der Stürmer nach Schlusspfiff. Aber natürlich muss da niemand aus dem Physioteam der Schweizer vor Angst zittern. Das Tor fiel ja trotz des Ungeschicks. Und eigentlich passte das Bild ja ganz wunderbar: Wie entfesselt rannte Embolo zum Tor.
Es ist länger her, dass er sportliche Schlagzeilen gemacht hat. Zuletzt tauchte er gleich in zwei Gerichtsfällen auf. Einmal als Angeschuldigter, einmal als Nebenfigur in einem Prozess gegen einen ehemaligen Hells Angel. Eine richtig gute Figur gab der 27-Jährige neben dem Platz irgendwie nicht ab.
Aber jetzt ist er wieder da, wo seine Stärken liegen: auf dem Rasen, wo er ein Stossstürmer ist, wie die Schweiz keinen zweiten hat. Einen Embolo könne man leider nicht klonen, hat Trainer Yakin vor dem Turnier gesagt. Jetzt sieht es so aus, als ob er das Original bekomme.
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