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Der tote Freund fehlt überall

Feinfühlig statt wild: Gilles Roulin entspricht nicht dem gängigen Bild des Abfahrers. Archivfoto: Christian Pfander
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Es sind Worte, die bewegen. «Dir beim Trainieren zuzusehen, war so inspirierend. Immer hast du dein Herz gegeben. Beeindruckend war deine Leidenschaft, dein Wille, deine Hingabe. Niemals habe ich dir dies je gesagt. Du hättest mir wohl doch nicht geglaubt, und doch wünschte ich, ich hätte es dir gesagt.» Die Zeilen stammen von Gilles Roulin.

Er sitzt an diesem 4. November zu Hause in Grüningen, er weint. Und er schreibt diesen Brief an Gian Luca Barandun, seinen Freund, der seit dem 10. Lebensjahr an seiner Seite war. Das Skitalent ist nicht mehr, der Bündner ist an diesem 4. November beim Gleitschirmfliegen abgestürzt. Die Ärzte konnten vor Ort nur noch den Tod feststellen.

Zweieinhalb Wochen später sitzt Roulin wieder an einem Tisch, diesmal in der Lobby eines Hotels im kanadischen Lake Louise. An diesem Wochenende starten die Speedfahrer hier in ihre Saison. Er sagt: «Ich bekam die Nachricht, und alles brach zusammen. Ich begann zu schreiben, und es tat gut.» Roulin schrieb für sich, er wollte das erst nicht veröffentlichen. «Doch dann hatte ich das Gefühl, es ist richtig, es auf Instagram zu stellen. Ich wollte den Leuten sagen, wie und wer er war.» Für Roulin war Barandun ein Begleiter, seit er als Bub dem Skiclub Lenzerheide-Valbella beitrat – einer, mit dem er alles teilte.

Wenn der Spruch ausbleibt

Letzte Woche weilten die Schweizer fürs Training in Panorama, unweit von Lake Louise. Barandun fehlte. Roulin sagt: «Ich dachte oft: Ich weiss genau, was ‹Bari› in diesem Moment sagen würde, welcher Spruch jetzt kommen würde. Es gibt so viele schöne Erinnerungen. Es ist unglaublich traurig, dass es nie mehr so sein wird.» Und seltsam, «weil irgendwie doch alles weitergeht wie davor».

Der Winter beginnt, die Athleten sind im Wettkampfmodus, auch Roulin. Er lässt den Gedanken an seinen verstorbenen Freund zwar ihren Platz, steht er aber im Starthaus, dürfen sie nicht aufkommen.

Für den 24-Jährigen kommt die Saison der Bestätigung. Der Zürcher hat einen Winter hinter sich, in dem es ihm formidabel lief. 20 Rennen bestritt er in seiner ersten Weltcupsaison, 16-mal fuhr er in die Punkte. Mitte Dezember in Gröden hat er als Vierter der Abfahrt alle verblüfft – auch sich.

«Ich kann die Gedanken steuern.»

Gilles Roulin

Er ist einer, der stets zweifelt. Als er im letzten Winter als Gesamtsieger des Europacups und als Gewinner der Abfahrts- und Super-G-Wertung aufstieg auf die höchste Stufe, tat er das nicht etwa mit breiter Brust. «Ich hatte Angst», sagt er, «Angst, dass es nicht klappt, dass ich viele schlechte Rennen zeige, dass ich merke: Das Niveau reicht nicht für den Weltcup.» Die Angst war unbegründet. Roulin hat die Prüfung bestanden, weil er mittlerweile weiss, wann er die Zweifel ablegen muss, dass er all die Überlegungen im Training lassen und sich auf das Rennen konzentrieren muss. «Ich kann die Gedanken steuern», sagt er.

Roulin, der sich als Kopfmensch bezeichnet und neben seinem Beruf als Skifahrer im siebten Semester per Fernstudium Jus studiert, braucht hierfür keinen Mentaltrainer. «Spitzensport ist Mentaltraining genug. Ich habe Grenzerfahrungen, gehe immer ans Limit, so lerne ich mich sehr gut kennen.» Psychologiebücher gehörten lange zu seiner Lektüre.

Ja, irgendwie will dieser Gilles Roulin so gar nicht ins Bild eines gängigen Skifahrers passen. Er ist kein wilder, verwegener Abfahrer aus den Bergen. Er ist feinfühlig, hinterfragt vieles, und am Abend sitzt er im Hotelzimmer vor seinen Büchern. Es sei ja auch alles Zufall, dass er hier gelandet sei, sagt er.

Skigymnasium als Grundlage für Karriere

Die Roulins haben ein Haus in Valbella, die Liebe zum Sport entstand während der Ferien. Als er mit sieben an einem Skitag mit Bruno Kernen teilnahm, riet ihm dieser, sich einem Skiclub anzuschliessen. «Nur so kam ich überhaupt dazu», sagt Roulin. Später legte er im Skigymnasium im österreichischen Stams die Grundlage für seine Karriere.

Doch so recht traute er der Sache nie. Deshalb das Studium, das Fundament für eine Laufbahn neben dem Sport. «Ich hatte immer die Einstellung, dass ich im nächsten Jahr nur noch studieren würde, weil es fürs Skifahren nicht reicht», sagt er.

Das hat sich mit der letzten Saison geändert. Nun sollen die nächsten Schritte folgen. Wie gerne hätte er diese mit Gian Luca Barandun getan, er war sein treuer Gefährte – bis sie vor zweieinhalb Wochen ein tragischer Unfall trennte.