Geldpolitik in EuropaDer Kampf gegen die Inflation ist so tückisch wie selten zuvor
Die bisherigen Mittel helfen nicht mehr: Führende Notenbanker und Ökonomen suchen ab heute in Portugal die richtige Strategie gegen die Teuerung – und die «Gierflation» der Firmen.
Der Kampf gegen die Inflation – er scheint so tückisch zu sein wie selten zuvor. «Wir müssen viele Lehren ziehen», zeigte sich der Chef der Bank of England, Andrew Bailey, vor kritischen Parlamentariern reumütig. Er ist nicht allein, es ist überall dasselbe Bild: In Grossbritannien, in den USA, in der Eurozone, in Deutschland sind die Preise in den vergangenen zwei Jahren so stark gestiegen wie seit den 1970er-Jahren nicht mehr.
Gleichzeitig wirkt das Gegenmittel – die Erhöhung der Leitzinsen – nicht so geschmeidig wie gewünscht. Was also tun? Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), sagt, Geldpolitik sei keine «Wissenschaft». Vielmehr sei das, was Notenbanker machten, auch eine Art «Kunst».
Die führenden Köpfe der internationalen Geldpolitik treffen sich seit Montag im portugiesischen Sintra für drei Tage zum EZB-Notenbankforum, um über die neuen Leitplanken dieser «Kunst» zu diskutieren. Es ist das zehnte EZB-Forum. Doch das Jubiläum wird kein grosses Thema sein, dafür sind die Probleme zu ernst.
Im Rat der EZB tobt ein Streit
Bei früheren Treffen ging es um die Folgen der Euro-Schuldenkrise, um «zu niedrige Inflation», um den Brexit, die Corona-Pandemie und den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Angesichts des «gierigen Biests», wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel die Inflation charakterisiert, fragt die Öffentlichkeit, wie Notenbanken ihre Kernaufgabe erfüllen: für stabile Preise zu sorgen, und zwar zügig – jedoch ohne die Welt in eine lange Rezession zu stürzen. Deutschland, als grösste Volkswirtschaft der Währungsunion, steckt bereits in einer solchen.
Die Europäische Zentralbank hat die Zinsen binnen eines Jahres von 0 auf 4 Prozent angehoben. Für den Juli hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde eine weitere Zinserhöhung angekündigt. Geht es um Inflation, steht die Schweiz mit einem Wert von 2,2 Prozent im Mai besser da als die EU. Doch auch hier hat die Notenbank vergangene Woche die Zinsen auf 1,75 Prozent erhöht.
Im Rat der Europäischen Zentralbank tobt ein Streit darüber, ob man im September noch mal erhöhen soll – oder ob dann erst mal Schluss ist. Einige, wie Chefvolkswirt Philip Lane, sagen, es bestehe keine Dringlichkeit, sich schon jetzt auf eine Entscheidung für die Sitzung am 14. September festzulegen. Andere, wie EZB-Direktorin Isabel Schnabel, sagen, man müsse lieber das Risiko eingehen, zu stark an der Zinsschraube zu drehen als zu wenig. Sonst sei das Inflationsziel von 2 Prozent nicht zu erreichen.
Dieses Ziel selbst ist enorm ehrgeizig. In der Eurozone lag die Teuerungsrate im Mai mit 6,1 Prozent dreimal so hoch. Experten wissen, dass es zum Ende hin besonders schwierig wird, die Inflation zu senken – also beispielsweise von 2,5 auf 2 Prozent. An den Finanzmärkten wird daher spekuliert, dass die Notenbank es mit den Zinsanhebungen nicht zu weit treiben würde, nur um eine Punktlandung bei 2 Prozent zu schaffen.
Die EZB geht selbst davon aus, dass man noch im Jahr 2025 bei 2,2 Prozent Inflation liegen wird. Sollte die EZB daher schon bei 3 Prozent Inflation die straffe Geldpolitik wieder lockern? Die Notenbank weist das zurück, die akademische Debatte über den Nutzen der starren Inflationsziele, die alle grossen Notenbanken verfolgen, ist jedoch in vollem Gang.
Die Angst vor der Lohn-Preis-Spirale
Europas Notenbanker blicken inzwischen verstärkt auf die sogenannte Kerninflation, bei der die besonders schwankungsanfälligen Preise für Energie und Lebensmittel herausgerechnet werden. Dieser Wert, der den mittelfristigen Trend des Preisanstiegs besser widerspiegeln kann, lag im Mai bei 5,3 Prozent – im März hatte er mit 5,7 Prozent den höchsten Stand in der Geschichte der Währungsunion erreicht. Die EZB erwartet in ihrer aktuellen Prognose, dass die Kerninflation noch bis 2025 oberhalb von 2 Prozent liegen wird.
Es gibt zwei Hauptgründe für die steigenden Preise. Erstens handelt es sich um eine Angebotsinflation: In der Pandemie blieben Fabriken geschlossen, Produkte wurden knapp, die Preise stiegen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sorgte für Verknappung von Gas und Öl – mit dem gleichen Effekt. Die Energiepreise sind zwar zuletzt weniger stark gestiegen, doch vor allem Lebensmittel und Dienstleistungen kosten immer mehr. Gewerkschaften fordern deshalb höhere Löhne, verständlicherweise.
Doch die Notenbank befürchtet dadurch eine Lohn-Preis-Spirale. «Wenn die Löhne schneller steigen, als wir dachten, und sich das Produktivitätswachstum nicht erholt, dann besteht diese Gefahr», sagt Schnabel. Bei einer Lohn-Preis-Spirale schlagen Unternehmen die höheren Lohnkosten auf die Preise, was wiederum höhere Lohnforderungen nach sich zieht, sprich, die Inflation würde sich selbst nähren.
Es kann mehr als ein Jahr dauern, bis die Zinserhöhungen die Nachfrage in allen Wirtschaftsbereichen dämpfen.
Zweitens mussten die überraschten Notenbanker feststellen, dass Firmen auf ihre Produkte mehr draufschlagen, als sie es aufgrund der gestiegenen Preise eigentlich müssten. Man spricht inzwischen von «Gierflation». Eigentlich sollte der Konsum überteuerter Waren und Dienstleistungen zurückgehen – doch das Gegenteil geschah. Viele Verbraucher kauften trotzdem kräftig ein. Sie hatten während der Pandemie Geld gespart, das sie während des Lockdown nicht ausgeben konnten. Der Preisdruck bleibt daher unvermindert hoch.
Darüber hinaus gibt es diese vermaledeite Wirkungsverzögerung der straffen Geldpolitik: Es kann mehr als ein Jahr dauern, bis die Zinserhöhungen die Nachfrage in allen Wirtschaftsbereichen dämpfen. Die Gefahr: Wenn man die Zinsen zu schnell und zu stark erhöht, könnte sich ein Jahr später herausstellen, dass man zu viel des Guten getan hat und die Wirtschaft stark abschmiert. Ein Dilemma – die Währungshüter haben Redebedarf beim EZB-Forum.
Fehler gefunden?Jetzt melden.